Shell-Studie '97: Die gesellschaftliche Krise hat die Jugend erreicht

Abfahren oder sitzenbleiben


Mit großem Echo in den Medien wurden am 13. Mai die Ergebnisse der 12. Shell-Jugendstudie vor der Bundespressekonferenz in Berlin vorgestellt. Seit 1953 hat das Jugendwerk der Deutschen Shell AG Jugendstudien finanziert und herausgegeben, um auf der Grundl age seriöser Bestandsaufnahmen die Lebenseinstellungen und Werthaltungen junger Menschen in Deutschland zu bilanzieren. Als "Institution" der deutschen Jugendforschung finden diese Studien große öffentliche und wissenschaftliche Resonanz. Es ist deshalb seit geraumer Zeit üblich, daß die amtierende Bundesjugendministerin die Ergebnisse aus der Sicht der Jugendpolitik bewertet und kommentiert. Ministerin Claudia Nolte hat diesmal zu den Ergebnissen Stellung genommen und von einer "erheblichen Herausforderung für Politik und Gesellschaft" gesprochen.

Grafik1Dazu hatte sie auch allen Grund; denn die Ergebnisse der 12. Shell-Jugendstudie lassen aufhorchen. Mithilfe einer qualitativen Studie (60 mehrstündige narrative Interviews), biographischen Por träts (19 Jugendliche und junge Erwachsene wurden im Zusammenhang ihrer Biographie porträtiert) und einer repräsentativen Fragebogenerhebung (2.100 Fragebogeninterviews bei Jugendlichen in Ost- und Westdeutschland im Alter von 12 bis 24 Jahren) haben Arthur Fischer (Psydata, Frankfurt a.M.) und der Verfasser die Lebenssituation der Jugend und ihre Bereitschaft zu gesellschaftlichem und politischem Engagement untersucht.

Zwei Hauptergebnisse haben sich herausgestellt: Die gesellschaftlichen Krisen haben die Jugend erreicht. Jung sein ist nicht mehr ein Schonraum, eine unbeschwerte Phase des Lernens, des Sich-Vorbereitens und Ausprobierens - entlastet vom Ernst des Erwachs enenlebens. Jugend fühlt sich vielmehr belastet mit den ungelösten Zukunftsproblemen der Gesellschaft, allen voran von Arbeitslosigkeit und Umweltproblemen. Sowohl in den qualitativen Interviews wie auch in der offen gestellten Eingangsfrage des Fragebogens nach den "Hauptproblemen der Jugendlichen heute" werden sie an vorderster Stelle genannt. Vor allem für junge Erwachsene, die nach ihrer Chance zum Einstieg in die Arbeitsgesellschaft suchen, ist Arbeitslosigkeit das Hauptproblem: fast zwei Drittel nennen es an erster Stelle. Entsprechend haben sich die Zukunftsperspektiven Jugendlicher verdüstert. Nach einer Einschätzung ihrer persönlichen Zukunftsaussichten befragt, entschieden sich 51 Prozent für die Antwort "gemischt: mal so - mal so". Nur noch rund ei n Drittel blickt "eher zuversichtlich" in die Zukunft. In der 11. Shell-Jugendstudie 1992 hatte noch die Mehrheit (59 Prozent) diese optimistische Antwort gewählt. Hinzu kommt, daß die Jugendlichen in absehbarer Zeit keine Lösung en für diese Probleme erwar ten. Nur 7 Prozent erwarten "wahrscheinlich" und 1 Prozent "sicher", daß es gelingen wird, die Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen. Insbesondere der Politik trauen die Befragten keine Lösungskompetenz zu; von ihr erwar ten sie sich "gar nichts".

Grafik2Der Ergebnisbericht ist über den Buchhandel zu beziehen: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): Jugend '97. Zukunftsperspektiven - Gesellschaftliches Engagement - Politische Orientierungen. Gesamtkonzeption und Koordination: Arthur Fischer und Richard Mü nchmeier, Opladen (Leske + Budrich) 1997, DM 19.80.

Dennoch - und das ist das überraschende zweite Hauptergebnis - kann man nicht allgemein von einer "Politikverdrossenheit" der Jugend sprechen. Die Dinge liegen sehr viel komplizierter. Junge Leute sind durchaus engagementbereit; sie bef&uum l;rworten bürgerschaf tliche Gruppen im Bereich von Ökologie und Menschenrechten; sie opfern Zeit für soziale Tätigkeiten; sie organisieren ihre eigenen Aktivitäten. Aber sie halten Distanz zu den eingefahrenen Ritualen und Abläufen in den Parteien und Vereinen. Vor allem: Engagement muß "Spaß machen". Spaß - das bedeutet nicht selbstverliebte Genußsucht, sondern Spaß daran, etwas bewirken zu können, und eben letzteres trauen sie der "Politiker-Politik" nicht zu. Aus ihrer Sicht wäre nicht die Politikverdrossenheit der Jugend zu problematisieren, sondern die "Jugendverdrossenheit der Politik". Ihr Vorwurf an Politiker und die Gesellschaft der Erwachsenen lautet, daß sie sich nicht um jene Zukunftsprobleme kümmern, die die Zukunft der Jugend verstellen.

Um der Öffentlichkeit die Möglichkeit zur Beteiligung an der Diskussion der Ergebnisse der 12. Shell-Jugendstudie zu bieten, hat das Institut für Sozialpädagogik der Freien Universität ein Diskussionsforum im Internet eingerichtet . Interessenten können sic h in das Forum einwählen über die Internetadresse http://www.deutsche-shell.de/jugend/. Bisher haben bereits mehr als 6.000 Neugierige die dort abrufbaren Informationen eingesehen.

Richard Münchmeier

Richard Münchmeier ist Professor am Institut für Sozial- und Kleinkindpädagogik - Bereich Sozialpädagogik - am Fachbereich Erziehungswissenschaft. Zusammen mit A. Fischer k onzipierte und koordinierte er die Shell-Jugendstudie '97


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