Theater in Berlin lebt nach einem besonderen Zeitmaß

Denk- und Merkwürdigkeiten


Aus Westdeutschland nach Berlin kommend erscheint die Fülle des Theaterangebots zunächst wie eine Verheißung. All die großen Bühnen, all die großen Namen, so viel Theatergeschichte auf Schritt und Tritt, so viele Versprechen! Berlin, so ist man geneigt zu denken, muß das Mekka sein für Theaterwissenschaftler/innen! Die Spitze des traditionellen Theaters und die Vorhut der Avantgarde zugleich! Ausreichend Material für Lehre und Forschung direkt vor der Tür. Der Neid der in der "Provinz" verbliebenen Kollegen und Kolleginnen wird uns gewiß sein.

Nach nunmehr einem Jahr neugierigen Beobachtens der "Szene" hat man gelernt, daß Fülle die Tugend des Verzichts gedeihen läßt, daß es neben dem Interessanten und Aufregenden einiges Denk- und Merkwürdige gibt, und die europäisch-amerikanische Festivalkultur der letzten Jahre der internationalen Theaterwissenschaft die Richtung des Denkens gewiesen hat. In Berlin hingegen scheint ein wenig die Zeit stehengeblieben zu sein, oder die besondere Problematik der Stadt hat ein anderes Zeitmaß befördert, welches eben jene Denk- und Merkwürdigkeiten hervorbringt.

Einar Schleef zum Beispiel, unbequemer Regisseur am Berliner Ensemble. Welche Herausforderung für eine lebendige Auseinandersetzung der verschiedenen Theater mit sich selbst und untereinander. In Frankfurt fühlten sich die Tänzer des weltberühmten Choreographen Bill Forsythe mit Schleef verwandt, und in Berlin läßt man ihn nicht arbeiten. Wo ist der Ort, an dem man Mut zum Streit beweist, weil man versteht, daß Reibung an starken ästhetischen Behauptungen, wie sie Schleefs Inszenierungen darstellen, der Klärung des eigenen Standpunktes nur förderlich ist?

Schleefs und Castorfs "Puntila" beispielsweise markiert zwei völlig verschiedene Auffassungen von Theater. Der Widerstreit, der sich daran entfachen ließe, könnte der "Suche nach neuen Formen", wie sie in Andrea Breths Inszenierung der "Möwe" thematisch wird, Argumente liefern. Und für uns Theaterwissenschaftler/innen wäre es Vergnügen und Gewinn zugleich, sich in diesem theatralen Denkraum zu bewegen. Freilich werden kulturpolitische Entscheidungen nicht für TheaterwissenschaftlerInnen getroffen, und selbstverständlich gibt es hier ausreichend theatralen Stoff, an dem sich unser Denken entzünden kann. Aber es gibt einen leisen Zweifel daran, ob wir uns tatsächlich in der Hauptstadt des Theaters befinden. (Es sei denn, man geht davon aus, daß das "wahre" Theater seinen Ort längst woanders hat, in den U-und S-Bahnen beispielsweise, auf den Straßen.) Was macht eine Hauptstadt aus, wenn nicht die Extreme, das auf die Spitze getriebene, das anderswo einem wie auch immer gearteten Frieden zum Opfer fällt? Für das Denken des Theaters ist es allemal von großer Wichtigkeit.

Denk- und merkwürdig im positiven Sinn ist auch das Abseitige, das, was nicht Eingang findet in die Feuilletons, sich seinen Platz und sein Publikum erst sucht und somit auf Mögliches, Künftiges deutet. Das, was sich dem Aufbau und Verfall zur Seite stellt und der Phantasie einen Spiel-Raum gewährt. Unter der Erde liegende Keller neben Dock 11, die eine Öffnung zum Himmel haben, beispielsweise, und die ohne die drei Männer von "Braun" nicht sichtbar geworden wären oder dank dem Theater am Halleschen Ufer zwanzig Minuten Freiraum zum Probieren, was sich aus "The Killing of a Chinese Bookie" für das Theater gewinnen läßt.

Denk- und merkwürdig wird das, was im Theater geschieht, freilich nicht zuletzt durch unser Zutun. Indem wir Gäste einladen aus allen Teilen der Welt und ihnen und unseren Studierenden mit unserer eigenen Begeisterung das zu zeigen, was wir für wichtig halten.

Christel Weiler


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