Ohne Zusammenarbeit mit den Naturwissenschaften ist moderne Medizin nicht mehr denkbar

Medizin im Zeitalter der Biowissenschaften


Grafik1Auf einem Knochenschliff wächst eine Freßzelle. Rasterelektronenmikroskopische Fotografie in 5000facher Vergrößerung
Das nächste Jahrhundert gehört den Biowissenschaften. Angetrieben von den methodischen Entwicklungen in den "klassischen" Disziplinen Physik und Chemie und ihrer Anwendung auf lebende Systeme in Biophysik und Biochemie, ist schon in den letzten 20 Jahren aus der biologischen und medizinischen Grundlagenforschung eine Fülle von fundamentalen Erkenntnissen über Struktur und Funktion von Lebewesen hervorgegangen. Diese Erkenntnisse haben mittlerweile auch ihren Weg in vielfältige Anwendungen gefunden - Gentechnik und Biotechnologie sind längst nicht mehr Gegenstand von Science-fiction.
Natürlich hat das seine Vorgeschichte. Am Anfang des 19. Jahrhunderts entdeckte die biologische Forschung die Zelle als den lebenden Elementarbaustein der Organismen und begann, Eigenschaften und Verhalten komplexer Organismen als das Ergebnis der Interakt ion dieser Bausteine zu verstehen. Es entstand die "Zellbiologie" und in der Medizin die "Zellularpathologie", deren Auswirkungen auf den ganzen Organismus sich als Krankheiten manifestieren. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrat die Biowissen schaft - wie Physik und Chemie an seinem Anfang - die nächste Ebene, die der Moleküle. Die sich explosionsartig entwickelnden Methoden der "Molekularbiologie" erlauben nun die Analyse elementarer Stoffwechselvorgänge innerhalb von Zellen und in ihren subze llulären Funktionsbestandteilen: Mitochondrien, Kern, Golgi-Apparat und anderen, aber auch die Komplexität der Kommunikation zwischen Zellen, die es ermöglichen, die Funktion eines ganzen Zellverbandes und Organismus zu regulieren. Diese Analyse wurde mög lich, nachdem biophysikalische und biochemische Methoden es erlaubten, Einblicke in die Struktur komplexer Moleküle wie etwa der Proteine, die mit dieser Struktur verbundenen Eigenschaften und die sich daraus ergebenden vielfältigen Wechselwirkungen zwisc hen ihnen, zu gewinnen. So befinden wir uns heute am Anfang auch der "Molekularen Medizin" und stehen - nachdem auch die Entschlüsselung der Gene möglich wird - erneut am Beginn eines neuen Verständnisses von Krankheit. Ganz offensichtlich hat das Jahrhu ndert der Biowissenschaften schon begonnen. Dieser gewaltige neue Entwicklungsschub der Biowissenschaften hat vielfältige Anwendungen ermöglicht, die auch für die Medizin von ungeheurer Bedeutung sind - von der gentechnischen Medikamentenherstellung bis zu den ersten Ansätzen der Gentheraphie maligner Tumorerkrankungen.

Die Geschichte der Biowissenschaften zeigt deutlich, daß für jede ihrer Entwicklungsstufen der Erkenntnisstand und das methodische Repertoire der klassischen Naturwissenschaften Physik und Chemie und ihrer mehr anwendungsorientierten Töchter, der Technikwi ssenschaften, bestimmend war. Insofern ist der Sprung in das Jahrhundert der "Molekularen Medizin" und die weitere Entfaltung diagnostischer und therapeutischer Möglichkeiten in der Medizin nur in einer engen Verknüpfung mit diesen Disziplinen denkbar. Sic htbarer Ausdruck dafür ist die Tatsache, daß eine wachsende Zahl der Mitarbeiter in medizinischen Forschungs- aber auch in klinischen Labors und auf Stationen der Klinika nicht in der Medizin, sondern in anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen ausgebil det wurde.

Für die Universität ergeben sich aus der eminenten Bedeutung der Naturwissenschaften für die zukünftige wissenschaftliche Medizin und ihre weitere Entwicklung im Jahrhundert der Biowissenschaften offensichtliche Schlußfolgerungen. Diese werden hier übrigen s in dem Bewußtsein dargestellt, daß die Medizin gerade wegen der fulminanten Folgen molekularbiologischer Erkenntnisse der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften dringend bedarf, deren Bedeutung daher hier auch nicht um ein Jota verkürzt werden soll. Di e Universität hat somit die Aufgabe, die Entwicklung der Molekularen Medizin zwar strukturell und organisatorisch zu ermöglichen und forciert zu fördern, den Zusammenhang mit Natur-, Geistes- und Gesellschaftswissenschaften aber dennoch zu bewahren. Der D iskurs zwischen den aus ihren eigenen Traditionen gewachsenen und oft auf sie fokussierten Disziplinen wird mit zunehmender Erkenntnis der Komplexität lebender Systeme - und des Menschen im speziellen - immer dringlicher.

Aus der eminenten Bedeutung der Biowissenschaften - selbst für die Gestaltung unseres täglichen Lebens - ergibt sich: Die Freie Universität muß "centers of excellence" in den Biowissenschaften bilden, wenn sie im neuen Jahrhundert den allgemeinen Wettbewer b der Bildungs- und Forschungseinrichtungen bestehen will. Nur dann wird sie übrigens auch einen Beitrag zur Entwicklung wesentlicher Anwendungen in Technik und Medizin leisten, der ihre Finanzierung durch die Gesellschaft rechtfertigt. Es bedarf einer neu en Ordnung der naturwissenschaftlichen Bereiche, deren jetzt zu "kleinteilige" Gliederung nicht hilfreich ist, um den Zusammenhang wissenschaftlicher Strukturen auch mit der Medizin zu bilden. Vielleicht wäre es sogar lohnend, über stärkere Verflechtungen mit einigen ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen nachzudenken, die an deutschen Universitäten - nicht in den USA und nicht in Japan - in der Regel fehlen, aber in vielfältiger Form ("bio-engineering") zu der modernen biowissenschaftlichen Entwicklung beitragen.

Grafik2Peter Gaehtgens ist Professor für Vegetative Physiologie und Dekan des Fachbereichs Humanmedizin.

Die Notwendigkeit stärkerer Verflechtung mit den Naturwissenschaften gilt übrigens auch für die Lehre, weil Ausbildung wissenschaftlichen Nachwuchses der beschriebenen Forschungsentwicklung angepaßt sein muß. Hier sind Studien- und Ausbildungsgänge in enger Koordination zwischen Physik, Chemie, Biologie und Medizin notwendig. Der Mediziner von morgen kommt im Jahrhundert der Biowissenschaften und der Molekular en Medizin ohne differenziertes naturwissenschaftliches Wissen nicht mehr aus. Insofern ist eine Reform des Medizinstudiums in Richtung auf eine stärker ganzheitliche Betrachtung des Menschen in einer erfahrungsorientierten Medizin - deren Bedeutung für den praktizierenden Arzt keinesfalls unterschätzt werden soll - für ihre wissenschaftliche Entwicklung nicht geeignet, wenn sie gleichzeitig einen Rückschritt der naturwissenschaftlichen Ausbildung bedeutet.

Peter Gaehtgens


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