Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit auf der Grundlage einer großen Tradition

Naturwissenschaften im Aufbruch


Dahlem. - Um 1930 stand dieser klangvolle Name für ein Zentrum der Naturwissenschaft von Weltgeltung, dessen Ruhm vor allem auf den Forschungsleistungen der Institute der Kaiser Wilhelm Gesellschaft (KWG) basierte. Forscher wie Butenandt, Debye, Delb rück, Hahn, Heisenberg, von Laue, Nernst, Planck und Warburg gaben hier der physikalischen Chemie, Biochemie, Physik und Materialforschung entscheidende Impulse für das 20. Jahrhundert. Bei einem Spaziergang durch diesen Stadtteil, in dem einmal 12 Nobelpr eisträ ger arbeiteten und lebten, werden Erinnerungen an diese große Zeit der Wissenschaft in Berlin wach. Straßennamen, noch bestehende Institute, Wohnhäuser und das Harnackhaus, als ehemaliges Zentrum des wissenschaftlichen Lebens der KWG, si nd beredte Zeitzeugen. Nach dem durch die Naziherrschaft und den 2. Weltkrieg bedingten Niedergang ist die Max-Planck-Gesellschaft (MPG), die Nachfolgerin der KWG, in Dahlem wieder hervorragend mit dem Institut für Molekulare Genetik und dem Fritz-Ha ber-Institut vertreten. Durch die im Jahr 1948 erfolgte Gründung der Freien Universität wurden die Naturwissenschaften erheblich gestärkt, so daß Dahlem gegen Ende des Jahrhunderts wieder ein Wissenschafts-Campus von nationalem und internationalem Rang ist.

Grafik1Arnulf-Dieter Schlüter ist Professor für Organische und Makromolekulare Chemie und Dekan des Fachbereichs Chemie
Die naturwissenschaftlichen Fachbereiche an der FU, Mathematik/Informatik, Physik, Chemie, Pharmazie, Biologie und Geowissenschaften fühlen sich der Grundlagenforschung verpflichtet. Davon unberührt bleiben natürlich einige Kooperatione n mit der Industrie und anwendungsorientierte Forschungsprojekte. Die einzelnen Disziplinen sind untereinander und mit diversen ausseruniversitären Einrichtungen der Region stark vernetzt. Intern kooperieren besonders stark die Bereiche Physik und Mathematik/Informatik, Physi k und Chemie sowie Chemie (mit ihrer Biochemie) und Biologie. Besonders wichtige externe Projekte bestehen mit den beiden anderen Berliner Universitäten, der Technischen und der Humboldt-Universität, sowie mit dem Max-Delbrück-Zentrum, Fri tz-Haber-Institu t der MPG, Max-Born-Institut, BESSY I/ll, MPI für Kolloide und Grenzflächen, Konrad-Zuse-Zentrum, Hahn-Meitner-Institut, MPI für Molekulare Genetik, Geoforschungszentrum in Potsdam und der Bundesanstalt für Materialforschung und -testu ng. Diese Kooperation e n gründen sich häufig auf interdisziplinär angelegte Sonderforschungsbereiche.

Apropos Sonderforschungsbereiche: Die naturwissenschaftlichen Fachbereiche der FU sehen mit Stolz auf ihre Tradition bei der Drittmitteleinwerbung (s. Tabelle). Trotz der kontinuierlich abnehmenden Anzahl von Hochschullehrern (siehe unten) konnte das Nive a u der eingeworbenen Drittmittel auf konkurrenzfähig hohem Stand gehalten, wenn nicht sogar noch gesteigert werden (Schätzung für 1996). Was könnte die Leistungsbereitschaft und Innovationskraft der Fachbereiche besser zum Ausdruck bri ngen? Die sechs zur Z e it in der Fächergruppe betriebenen Sfb's und die diversen Beteiligungen an solchen der TU und HU machen den Löwenanteil der Mittel aus. Daneben gibt es aber auch eine Vielzahl kleinerer Aktivitäten, die über das Bundesminister ium für Bildung, Forschung u nd Technologie, über DFG-Normalverfahren, die Europäische Union oder direkt über Verträge mit der Industrie finanziert werden. Diese vom jeweiligen Finanzvolumen her nicht ganz so bedeutsamen Projekte sind dennoch wichtig. Häufig wird in ihnen das Terrain fü r mögliche neue Forschungsrichtungen sondiert, die dann später in neue Schwerpunktprogramme und Sfb's münden. Gegenwärtig gibt es in den Naturwissenschaften mindestens vier neue Sfb-lnitiativen, bei denen die FU eine ma& szlig;gebliche Rolle spielt und die gut e A ussichten haben, von der DFG genehmigt zu werden.

Die hohe Qualität der Forschung an den naturwissenschaftlichen Fachbereichen wird nicht nur durch die Drittmittelaktivitäten dokumentiert. Viele Hochschullehrer haben auch ehrenvolle in- und ausländische Auszeichnungen erhalten, wobei siche rlich die sechs an FU-Naturwissenschaftler verliehenen Leibnizpreise besonders erwähnenswert sind. Darüber hinaus hat eine stattliche Anzahl von Habilitierten und Professoren Rufe an renommierte Universitäten und Forschungseinrichtungen weltweit erhalten. Bei den Professo ren konnten diese erfreulich oft abgewehrt werden. Es ist aber nicht nur attraktiv in Dahlem zu forschen und zu lehren, sondern auch zu studieren und zu promovieren. Dies belegen die vergleichsweise vielen Studienanfänger sowie die hohe Zahl der Stu diumsa b schlüsse und Promotionen. Dahlem hat eine Sogwirkung auf junge Menschen aus nah und fern, was zusammen mit den stets anwesenden ausländischen Gastwissenschaftlern dem Campus ein liberales und internationales Flair verleiht.

Das Niveau der eingeworbenen Drittmittel ist auf konkurrenzfähig hohem Stand: Sonderforschungsbereiche 1993 bis 1995
Das Land Berlin wird gegenwärtig von einer Finanzkrise erschüttert. Im Zuge der unbestritten notwendigen Haushaltskonsolidierung erfahren die Berliner Universitäten drastische Kürzungen, die letztlich auf die Einsparung des Etats von m indestens einer ganze n Universität hinauslaufen. Die finanziellen Zwangsmaßnahmen sind nicht nur in ihrer Höhe außerordentlich problematisch, sondern auch in der Geschwindigkeit, in der sie exekutiert werden. Die Berliner Universitäten gleichen ein em Auto, das aus voller Fahr t mit rauchenden Reifen auf Schrittempo abgebremst wird. Da die Universitäten keine Instrumente haben, um auf finanzielle Engpässe dieser Größenordnung zu reagieren, sind gravierende Strukturschäden unausweichlich. Bizarre Fehlen twicklungen mit unübersehba r en Langzeitschäden sind die unausweichliche Folge, wenn nicht energisch gegengesteuert wird.

Die Naturwissenschaften sind in besonderer Weise auf eine moderne apparative Ausrüstung in Forschung und Lehre angewiesen und werden von Einsparungen im Investitions- und Sachmittelbereich ins Mark getroffen. Genauso ernst sieht es mit Kürzungen im akademi schen "Mittelbau" aus. Forschung und Lehre wird zum großen Teil von Diplomanden und Doktoranden getragen. Wegen deren (gewünschter) hoher Fluktuation lassen sich schnell nur hier, bei den sogenannten WiMi-Stellen, Einsparungen erzielen. Die Fo lge davon sind Praktikumszusammenlegungen und -schließungen sowie Einbrüche in der Forschung. Besonders verschärft wird die Situation dadurch, daß Drittmittelgeber die Bereitstellung einer personellen und sächlichen Grundausstat tung als Voraussetzung für ihre Mittelv er gabe ansehen. Verfügt also ein Hochschullehrer nicht mehr über genügend WiMi - Stellen, wird er trotz eines als exzellent begutachteten Forschungsvorhabens keine zusätzlichen Mitteleinwerben können.

Die längerfristige Folge davon wird sein, daß Studierende nicht mehr nach Berlin kommen, Rufabweisungsverhandlungen nicht mehr erfolgreich gestaltet werden können und Neuberufungen von hochqualifizierten Wissenschaftlern nicht mehr gelinge n.

Zur Abwendung dieses düsteren Zukunftsszenarios halten die Naturwissenschaften folgende Maßnahmen für geeignet und haben mit deren Realisierung - von Fach zu Fach leicht modifiziert - bereits begonnen: leistungsorientierte Mittelverteilung

kurze Promotionszeiten durch Laufzeitbegrenzung bei WiMi-Stellen

- angemessene Studienzeiten

- Forschungs- und Lehrevaluierung

- Mentorenprogramme für Studierende

- Einrichtung von auslandsorientierten Studiengängen mit Vorlesungen in Englisch und unter Anwendung des European Credit Transfer Systems (ECTS)

- Komplettierung der elektronischen Vernetzung

- Schaffung einer virtuellen naturwissenschaftlichen Bibliothek

- Zentralisierung der Werkstätten und Serviceeinrichtungen

- Reduzierung der Anzahl der Institute und Neustrukturierung der Fachbereiche

- Stärkung der Budgetverantwortlichkeit der Hochschullehrer

- Stärkung der Stellung des Dekans durch Entscheidungsbefugnis über Stellen und Räume

Diese Maßnahmen lassen sich unter den Begriffen (weitere) Qualitätssteigerung, Flexibilisierung und Straffung der Leitungsstrukturen zusammenfassen. Darüber hinaus gilt es, diese internen Maßnahmen durch externe zu begleiten. Bei sin kenden Professorenzahle n ist nicht mehr vertretbar, daß mehrere Universitäten in einer Region dassselbe Lehr- und Forschungsprofil besitzen. Die naturwissenschaftlichen Fachbereiche der FU, HU, TU und der Universität Potsdam haben sich deshalb in kollegialer Wei se auf komplement äre Schwerpunkte in den einzelnen Fächern geeinigt. Die Fachbereiche der drei Berlinner Hochschulen wurden Ende letzten Jahres durch hochrangig besetzte Fachkommissionen evaluiert. Der Bericht wird in Bälde publiziert. Parallel dazu befa&sz lig;t sich der Wissens chaftsrat mit der Struktur der gesamten Region, insbesondere unter Einbeziehung des geplanten Technologieparks in Berlin-Adlershof und des Forschungsgeländes in Golm bei Potsdam. Die Naturwissenschaften der FU sehen in der gegenwärtigen Situatio n trotz all er Schwierigkeiten auch eine Chance - eine Chance für überfällige Umstrukturierungen, die die Qualität von Forschung und Lehre noch weiter steigern werden. Dahlem nimmt die Herausforderung an und macht sich fit für das kommende Ja hrhundert und den globalen Wettbewerb um Exzellenz in Forschung und Lehre. Auf der großen Tradition fußend und im Vertrauen auf die eigene Leistungsfähigkeit herrscht eine offene und kreative Aufbruchstimmung.

Arnulf-Dieter Schlüter


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