Das Zusammenspiel von Gesten und Sprache

In der Gestik steckt sprachliches und künstlerisches Potential


Schon die großen Lehrer der antiken Rhetorik sind sich der Untrennbarkeit von gesprochener Sprache und der sie begleitenden Handbewegungen bewußt. Vor allem Quintilian gibt akribische Anweisungen für eine dem Redner angemessene Gestenverw endung. Er empfiehlt, Gesten von schlechten Schauspielern und Pantomimen zu vermeiden und nur solche Gesten zu verwenden, die die sprachliche Brillanz unterstreichen und die Wirkung der Argumente befördern. Auf keinen Fall soll er Gesten verwenden, d ie die Aufgabe der Sprache übernehmen, die Dinge in der Welt darzustellen. Dazu gehören u.a. Gesten, die Handlungen beschreiben (man tut so, als spielte man eine Lyra; man tut so, als zöge man an einer Revolverschaltung) und Gesten, die die Form oder Größe von Gegenständen darstellen; die Größe eines Menschen).
Diesen Gesten haftet aus der Sicht der antiken Rhetorik ein Makel an: Sie können Sprache ersetzen. Und tatsächlich findet man sie gehäuft in fremdsprachlichen Gesprächen. Dann nämlich, wenn die Beherrschung der Fremdsprache zur Verständigung nicht ausreicht, sprechen wir "mit Händen und Füßen". Dies aber sollte ein gewandter Redner niemals tun. Für ihn gilt es, seine Könnerschaft darin z u beweisen, daß er der Sprache bei seinem Vortrag den unbedingten Vorrang einräumt. Er soll allein Gesten verwenden, die die Rede gliedern (Redeanfänge durch eine bestimmte Ringgeste), die seine Intentionen deutlich machen (Anschuldigungen durch Zeigen auf den Beklagten) und die die Gefühle des Redners zum Ausdruck bringen (etwa Zorn durch Ballen der Faust).

Das Zusammenspiel von Sprache und Gestik läßt sich nicht auf den schlichten Gegensatz von sprachersetzenden vs. sprachbegleitenden Gesten bzw. den von 'inhaltlicher'
vs. 'gefühlsmäßiger' Mitteilung reduzieren. Sprache und Gestik bringen im Einklang miteinander Gefühle zum Ausdruck, und sie stellen Sachinformationen dar.


Diese rhetorische Bewertung des Zusammenspiels von Sprache und Gestik bestimmt die Gestikbetrachtung bis ins 20. Jahrhundert. Noch in der strikten Trennung von verbaler und nonverbaler Kommunikation ist sie unbemerkt festgeschrieben. Doch das Zusammenspie l von Sprache und Gestik läßt sich nicht auf den schlichten Gegensatz von sprachersetzenden vs. sprachbegleitenden Gesten bzw. den von 'inhaltlicher' vs. 'gefühlsmäßiger' Mitteilung reduzieren.


Sprache und Gestik bringen im Einklang miteinander Gefühle zum Ausdruck, und sie stellen Sachinformationen dar. Dies zeigen nicht nur umfangreiche empirische Untersuchungen, sondern jeder, der seinen Blick dafür schärft, wird alsbald feststellen, daß wir die Hände nicht allein zum Gefühlsausdruck und zur Gliederung der Rede verwenden, sondern daß sie au ch bewegte Bilder sind, die ausgesprochene und nicht ausgesprochene Aspekte der sprachlichen ¥ußerung reliefartig hervorheben. Gesten können mit ebensolcher Leichtigkeit einen ovalen Bilderrahmen wie eine sich im Kreise drehende Diskussion in d er Luft modellieren oder nachzeichnen (Abb. 2). Und wenn sie dies tun, dann ist es genau die ovale Form oder die Kreisförmigkeit, die für einen Sprecher in einer gegebenen Gesprächssituation die relevantesten Aspekte seiner sprachlich-ge-st ischen Mitteilung sind.
Dieses sprachliche und künstlerische Potential der Gestik ist in der fast zweitausendjährigen Geschichte der europäischen Gestikbetrachtung weitgehend unbeachtet und unerforscht geblieben. Zu Unrecht.
Cornelia Müller


Cornelia Müller ist akademische Mitarbeiterin am Fachbereich Fachbereichs Germanistik


Ihre Meinung:

[vorherige [Inhalt] [nächste