FU-Projekt über den Erstspracherwerb bei Kindern versucht ein Rätsel zu lösen

Vom ersten Schrei zur Muttersprache

Wie das Menschenkind vom "ersten Schrei zum ersten Wort" (Papousek), zum ersten Satz, zu seiner Muttersprache kommt, ist eine verwickelte Geschichte. Daß Kinder so rasch, mühelos und selbst noch unter widrigen sozialen Umständen ihre Muttersprache lernen, ist ein Rätsel, das die Wissenschaft zu lösen sucht. Gegenwärtig wird diskutiert, ob der Spracherwerb ein Entdeckungsprozeß von biogenetisch vorgegebenem, universellem Sprachwissen ist, ob er aus der allgemeinen kognitiven Entwicklung hervorgeht, oder ob er nicht eher als ein Prozeß der Ausdifferenzierung und Integration kommunikativer und kognitiver Teilfähigkeiten im lebendigen und emotionalen Austausch des Kindes mit seinen primären Bezugspersonen anzusehen ist. Hierbei knüpft man an die von dem Psychoanalytiker John Bowlby entwickelte Bindungstheorie und die Erkenntnisse der modernen Säuglingsforschung an. Die wesentlichen Aussagen sind dabei die: Der Säugling, von Anfang an ausgestattet mit potenten kommunikativen und beziehungsstiftenden Signalfähigkeiten (Blicken, Mimik, Schrei, Kopfbewegungen), ist überlebensnotwendig auf die Beziehung zu seinen Eltern angewiesen, da diese ihm die nötige Pflege, den nötigen Schutz und Wohlbefinden garantieren. Die Eltern sind für gewöhnlich intuitiv in der Lage, auf die kindlichen Signale prompt und angemessen zu reagieren. Dadurch erfährt das Kind die Bezugsperson als eine Schutz und Nähe spendende Person und es entwickelt eine emotionale Bindung, die sich zum Ende des ersten Lebensjahres als ein inneres Arbeitsmodell des Anderen, des Selbst, der Welt etabliert.

Interessanterweise gebrauchen gerade unsicher gebundene Kinder mehr sprachliche als nonverbal-vokale Ausdrücke, wenn sie über die Separation kommunizieren. Einzelfallanalysen zeigen, daß bei diesem Thema der Dialog mit der Mutter häufig mühselig und von Mißverständnissen belastet ist.

Kinder, die die Erfahrung von zuverlässiger Nähe und Schutz im ersten Lebensjahr gemacht haben, bauen eine sichere Bindungsbeziehung auf. Kinder, deren Bezugspersonen sich häufiger zurückweisend oder inkonsistent verhalten, entwickeln eine unsicher-vermeidende, bzw. unsicher-ambivalente Bindungsbeziehung. Die Bindungsqualität beeinflußt die weitere Entwicklung des Kindes. Zahlreiche empirische Studien haben gezeigt, daß sich sicher und unsicher gebundene Kinder in der Entwicklung ihres Spielverhaltens, ihres sozial-emotionalen Verhaltens und in der Kognitionsentwicklung unterscheiden. Zusammenhänge zwischen Bindungsqualität und Sprach- bzw. Kommunikationsentwicklung sind weniger gut erforscht. Dieser Zusammenhang wurde in einem am Fachbereich Germanistik der FU durchgeführten Projekt über die Entwicklung nonverbaler und verbaler Kommunikation bei ein- bis dreijährigen Kindern untersucht. Analysiert wurde das Kommunikationsverhalten der Kinder in der Situation des freien Spiels mit der Mutter und in einer kurzen Trennungssituation.
Die verschiedenen Einzelbefunde der Studie lassen sich zu folgendem Muster zusammenfügen: Unsicher gebundene Kinder kommunizieren eher sparsam. Wenn sie kommunizieren, dann thematisieren sie in der Trennungssituation häufiger die Separation, der Kommunikationsfluß ist hierbei eher stockend. In der Situation des freien Spiels kommunizieren sie eher über Themen, die eine interpersonale Ausrichtung haben. Sofern die unsicher gebundenen Kinder über andere Themen kommunizieren, sind sie auf dichte zeitliche Abstimmung ihrer Dialogbeiträge mit denen der Mutter orientiert. Sicher gebundene Kinder dagegen richten sich thematisch eher auf die Welt der Objekte aus und zeigen eine eher balancierte Synchronisation im Gesprächsverhalten. Interessanterweise gebrauchen gerade unsicher gebundene Kinder mehr sprachliche als nonverbal-vokale Ausdrücke, wenn sie über die Separation kommunizieren. Einzelfallanalysen zeigen, daß bei diesem Thema der Dialog mit der Mutter häufig mühselig und von Mißverständnissen belastet ist. Sprache scheint in der Erfahrung dieser Kinder kein sonderlich zuverlässiges Mittel gelingender Verständigung zu sein. Diese frustrierende Erfahrung mag den Spracherwerb befördern, sofern die Frustration in erträglichen Grenzen verbleibt. Sie kann, bei weiteren widrigen Umständen, jedoch auch Kommunikationsstörungen begünstigen.
Gisela Klann-Delius


Gisela Klann-Delius ist Professorin für Linguistik mit Schwerpunkt Psycholinguistik am Fachbereich Germanistik


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