Der naturwissenschaftliche Unterricht steckt in der Krise

Mehr Chaos in der Schule


Wie können wir unser weitgehend bewährtes Bildungssystem verbessern, obwohl die Kultusminister bei ihren neuen Vorgaben die Forderungen der Hochschulen nach mindestens fünf in der Schule nicht abwählbaren Abiturfächern, daru nter eine Naturwissenschaft, unberücksichtigt ließen? Und wie erreichen wir, daß sich Schüler/innen und Studierende stärker für die Naturwissenschaften interessieren? Dr. Wolfgang Kern, Leiter der Physikalischen Praktika f& uuml;r Studierende der Medizin, Pharmazie und Geologie an der FU, versucht auf diese Fragen einige Antworten zu geben.

In seinem von Bildungspolitikern der CDU und der SPD gleichermaßen zitierten Memorandum "Bildung - Kreativität - Innovation" hat Mitte 1994 der Deutsche Philologenverband darauf hingewiesen, daß der Wettbewerb der Zukunft nicht nur ein Wettbewerb der Wirtschaftssysteme und der Technologien sein wird, sondern auch einer der Bildungs- und Ausbildungssysteme und der Kulturen.

Etwa gleichzeitig ermittelte INFAS, daß vier von zehn Jugendlichen im Alter von 14 bis 24 Jahren unserem Bildungssystem "volles Vertrauen" entgegenbringen (dagegen jeweils nur etwa jeder zehnte den Medien, den politischen Parteien und den Kirchen ). Nach der Studie von INFAS "wird heute der Wissenschaft und der Technik am ehesten zugetraut, die Gegenwarts- und die Zukunftsprobleme zu lösen".

Zwar klagen die Universitäten über mangelhafte Eingangskenntnisse ihrer Studierenden, z.B. in Mathematik (vor allem im Elementaren) und in Physik, sowie über mangelhafte schriftliche und mündliche Sprachfähigkeit. Und die Wirts chaft weist darauf hin, daß keine ausreichende Methoden- und Sozialkompetenz vermittelt würden. Andererseits zeigen unsere Studierenden aber Realitätsbezug, Problemaufgeschlossenheit und Experimen-tierfreudigkeit. In diesen für den E rfolg ihres Studiums sicher nicht unwesentlichen Grundpositionen liegt im Mittel kein Mangel an Studierfähigkeit vor. Und im Rahmen einer Einführungsphase passen sie sich auch relativ schnell der Notwendigkeit an, Wissen weitgehend selbstän dig zu erarbeiten, und sie können es in konkreten Problemsituationen schließlich auch umsetzen.

Unser Bildungssystem erfährt also eine hohe Akzeptanz und ist trotz der genannten Mängel bei weitem nicht so wirkungslos, wie manche glauben.

In vielen Branchen, öffentlichen Einrichtungen und Verwaltungen wird in den nächsten Jahren weiter menschliche Arbeitskraft durch Technik ersetzt werden. Gleichzeitig werden neue Arbeitsplätze entstehen: in der Entwicklung, der Organisat ion und insbesondere im Dienstleistungssektor, hier vor allem in den Berufsfeldern Erziehung, Bildung, Aus- und Weiterbildung sowie Gesundheit und Pflege. Auch von daher wird die Bedeutung des Bildungsbereichs zunehmen.

Nach der Entscheidung der Kultusminister, daß in der Schule nun doch nicht fünf Fächer, wie es die Hochschulen gefordert hatten, sondern nur drei durchgehend bis zum Abitur belegt werden müssen ö Deutsch, Mathematik und eine Fremds prache ö gilt es, die vorhandenen Spielräume besser zu nutzen und in der Frage der Hochschulreife ein flexibleres Mitwirkungsrecht der Hochschulen zu erreichen, denn durch die jetzige Reform werden weder das Abitur vereinheitlicht noch die naturwisse nschaftlichen Fächer gestärkt.


Schüler/innen und Studierende wollen experimentieren

Seit Jahren werden die Fächer Chemie und insbesondere Physik in der Oberstufe der Gymnasien stark abgewählt. Hinzu kommt seit kurzem: Während die Studienanfängerzahlen sonst steigen, fallen sie in den Natur- und Ingenieurwissenschaf ten ö seit 1990 um über 30 Prozent. In Sorge um die Forschung in Deutschland sprachen die Hochschulrektorenkonferenz und der Bundesverband der Deutschen Industrie Ende 1995 von einem dramatischen Rückgang, dem dringend zu begegnen sei.

Auf die Naturwissenschaften in diesem Umfang zu verzichten, kann sich unsere Gesellschaft nicht leisten. Natur-wissenschaftliche Grundkenntnisse und Fähigkeiten einschließlich der dabei erworbenen Begriffssysteme, Denkstrukturen und Probleml ösungsverfahren sind Qualifikationen, die in unserer technikbasierten Wirtschaft in vielen Berufen unverzichtbar geworden sind und die die Gesellschaft für den internationalen Wettbewerb und zur Lösung der globalen Probleme dringender denn je braucht. Zur Sicherung unserer Zukunft liegt eine solide und zeitgemäße naturwissenschaftliche Grundausbildung im Interesse aller.

Warum sind die Naturwissenschaften für unsere Jugend zur Zeit so wenig attraktiv? Nicht fehlendes Interesse an Biologie, Chemie und Physik selbst, sondern an der Art ihrer Präsentation, nicht eine ungenügende experimentelle Ausstattung, sondern deren zu geringe Nutzung, und nicht eine oft als alleiniger Grund genannte neue Technikfeindlichkeit sind die Ursachen. Nein, die Gründe liegen zum einen im naturwissenschaftlichen Schulunterricht und seiner Organisation, und sie sind zum and eren entwicklungsimmanent: Wir haben Schwierigkeiten im Umgang mit der gewaltigen Zunahme des Wissens.

Unsere jüngsten Analysen zeigen, daß zumindest das Fach Physik in vielen Schulen zu wenig schülernah unterrichtet wird. Gefragt ist bedürfnis- und interessenangepaßter Unterricht mit wesentlich mehr Möglichkeiten, selbst experimentieren zu können.

Schülerversuchen wird im heutigen Physikunterricht am Gymnasium nur etwa 10 Prozent der Unterrichtszeit eingeräumt (an Haupt- und Realschulen immerhin etwa 20 Prozent), obwohl, nach ihren Vorlieben im Physikunterricht befragt, über 70 Pr ozent der Schüler/innen den Schülerversuch nennen (15 Prozent den Demonstrationsversuch, 10 Prozent das Schülerreferat und nur 1 Prozent den Lehrervortrag!).


Was ist zu tun?

In Übereinstimmung damit und wohl übertragbar auf alle Naturwissenschaften geht aus detaillierten Umfragen unter fast tausend FU-Studierenden zum Physikunterricht in der Schule hervor: Auf die Phänomene kommt es ihnen an. Auf die Bez&uum l;ge kommt es an, insbesondere zum Alltag und zum eigenen Leben. Vor allem aber kommt es auf die Lehrerinnen und Lehrer an, auf ihr Wissen und Können und ihr Engagement. Individuelle Statements der Befragten zeigen zudem, daß die Lehrerin bzw. der Lehrer vor allem auch als Mensch gefragt ist, als Mensch mit naturwissenschaftlich kultiviertem, gesunden Menschenverstand, als der erfahrene Mensch, der mit seinem subjektiven und damit abgrenzend nachvollziehbaren Weltverständnis die Physik ins Leben einbindet.

Ein weiterer Grund für die mangelnde Attraktivität der Naturwissenschaften liegt darin, daß die Unterrichtsinhalte zu wenig den heutigen Einsichten der Wissenschaft Rechnung tragen. So werden zum Beispiel Ergebnisse der Chaosforschung i n den Medien heiß diskutiert, aber kaum in den Schulen. Das ständig wachsende Wissen paßt nicht mehr in die Lehrpläne. Schüler/innen des ausgehenden 20. Jahrhunderts dürften die Schule nicht mit einem Weltbild verlassen, da s dem Wissen des 19. Jahrhunderts entspricht. Gerade dies trifft aber in Physik zur Zeit bei etwa vier von fünf Gymnasiasten/innen zu.

"Das Gymnasium hat sicher nicht die Aufgabe, jeden Trend zu berücksichtigen", sagt Heinz Durner, Direktor am Münchner Gymnasium Unterhaching und Vorsitzender des Deutschen Philologenverbands. "Aber es muß entscheidende Veränderunge n in Wissenschaft und Technik, die das zukünftige Denken prägen, kontinuierlich in den schulischen Bildungsprozeß aufnehmen." Durner initiierte an seiner Schule zu Themen, die nicht im Lehrplan stehen (z.B. "Chaos und Ordnung" oder "Bionik ") interdisziplinäre Projekttage, die in monatelanger Arbeit gemeinsam vorbereitet werden und die unter Beteiligung von Wissenschaftlern aus Universitäten das Thema sinnlich faßbar in einen Bezug zur komplexen Lebenswirklichkeit der Sch&uu ml;ler/innen bringen. Mit großem Erfolg!

Wie können wir über Projekttage hinaus den naturwissenschaftlichen Unterricht verbessern? Um ihn stärker experimentell auszurichten, sollte, wer vorberei-tungsintensive Experimentalfächer unterrichtet und dabei in ausreichendem Ma&s zlig;e Schüler experimentieren läßt, vom Stundendeputat her eine Entlastung erfahren. Stunden für Teilungsunterricht in den Naturwissenschaften sollten nicht anderweitig verwendet werden dürfen. Die Ausbildung von Lehrern/innen s ollte mit dem Bestehen des 2. Staatsexamens nicht beendet sein, denn sie brauchen noch Jahre der Einarbeitung und in dieser Zeit Beratung durch erfahrene und qualifizierte Kollegen, und zwar nicht nur im Fachlichen, sondern auch in Fragen der Selbstorgani sation und des Umgangs mit Schülern/innen. Erst so können Persönlichkeiten reifen, wie wir sie in unseren Schulen in größerer Zahl brauchen, Menschen mit Ausstrahlung, die dann auch in der Lage sind, ihr Fach überzeugend mit anderen Fächern zu verknüpfen, z.B. Physik mit Biologie, Medizin oder Philosophie.

Der Einfluß fähiger und engagierter Lehrer/innen sollte vergrößert werden. Und die Forderung nach zeitgemäßen naturwissenschaftlichem Unterricht wirft die Frage auf, ob Lehrer/innen zur Weiterbildung nicht verpflichtet sein sollten. Fülle und Komplexität der erforderlichen naturwissenschaftlichen Un-terrichtsinhalte zwingen außerdem zu neuen Formen der Vermittlung. Die durch Computer möglichen interaktiven Lehr- und Lernformen werden Lehrer/innen ni cht nur in der Wissenvermittlung und Wissensanwendung entlasten, sondern sie werden auch im experimentellen Bereich durch Simulations- und Anima-tionsprogramme für wertvolle Ergänzung sorgen.

Auch die Universitäten und die Kultusverwaltungen sind gefordert, die Naturwissenschaften für junge Menschen wieder attraktiver zu gestalten. Es gilt, gemeinsam mit den Schulen zu bilanzieren, was unabdingbar gelernt und gelehrt werden sollte . Gleichzeitig müssen wissenschaftliche Erkenntnisse generell schneller in den Unterricht eingebracht werden. Alles in allem keine leichte Aufgabe. Doch kein Weg führt daran vorbei, die Krise des naturwissenschaftlichen Unterrichts zu bewäl tigen.

Wolfgang Kern

Fachbereich Physik


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