Verkehrspolitik in der Hauptstadt Berlin

Anspruch und Wirklichkeit


Bei der Analyse von Verkehrspolitik sollte zwischen Worten und Taten der verantwortlichen Akteure unterschieden werden. Gerade in Berlin besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen den verkehrspolitischen Zielen und der realen Politik.

Auf der einen Seite strebt Berlin zwar ö wie Amsterdam ö die "kompakte Stadt" an, durch die Verkehr vermieden werden soll, oder setzt sich das Ziel, nicht vermeidbaren Verkehr auf umweltverträgliche Verkehrsmittel zu verlagern. Auf der anderen Seite zeigt die Analyse der tatsächlich umgesetzten bzw. in der Planung befindlichen Maßnahmen, daß sich Berlin eher dem "Modell Los Angeles" nähert. Die Stadt steht aufgrund der besonderen Situation ö neues Umland, Regierungsumzug ö am Scheideweg. Die Entscheidung über die zukünftige Gestalt der Metropole wird in den nächsten Jahren fallen und nicht mehr umkehrbar sein: Berlin als "multifunktionaler städtischer Lebensraum" oder als "unwirtlicher Transitraum des motorisierten Verkehrs".


Aussteigen und umsteigen...

...von der Avus auf die Linie 1

Die Vermeidung einer Entwicklung nach dem "Modell Los Angeles" hängt wesentlich von der Verkehrspolitik ab. Ausgelöst durch die plötzliche "Hinzugewinnung eines Umlandes" und beschleunigt durch den bevorstehenden Regierungsumzug ist das gesamte System der Mobilität in der Region in einem Wandel begriffen. Szenarien zufolge muß dabei zwar mit einer Zunahme des Verkehrsaufkommens gerechnet werden, offen ist jedoch, in welchem Umfang das Verkehrsvolumen wachsen wird und welche Verkehrsträger dabei vornehmlich genutzt werden.

Bei der Entwicklung des zukünftigen Mobilitätssystems darf jedoch folgendes nicht vergessen werden: Die starren Weichen für Verkehr, Mobilität und urbane Qualität der zukünftigen Metropole Berlin werden bereits heute gestellt. Maßnahmen, wie der Bau von Straßen und Autobahnen, die Entwicklung von Einkaufszentren und Freizeitanlagen oder auch Wohnsiedlungen im Umland sind langfristig wirkende Entscheidungen mit strukturbildenden Effekten. Zusätzliche Straßen schaffen nicht nur kurz- und mittelfristig zusätzlichen Verkehr, sondern verändern langfristig das Mobilitätsverhalten und die Raumstrukturen. Der Fall Los Angeles aber auch Beispiele westdeutscher Großstädte zeigen, wie die Siedlungs- und Verökehrsentwicklungen bei geringer politischer Steuerung der lokalen und regionalen Mobilitätsstrukturen sowie bei angebotsorientierter Verkehrspolitik verlaufen: Zersiedlung des städtischen Umlandes ö wachsende Pendlerströme östeigende Verkehrsleistungen ö wachsende Umweltbelastungen (Lärm, Luftqualität etc.) ö Stadtflucht usw.. Eine derartige "nachholende Entwicklung" Berlins ist teils vermeidbar, allerdings nur durch den Willen zur koordinierten Steuerung von Raumordnung und Verkehr. So ist die werktägliche Verkehrsleistung mit rund 15 km pro Bewohner (1994) noch immer um 30 Prozent niedriger als etwa in Hamburg. Allerdings hat z.B. die mangelnde Koordination mit dem Land Brandenburg und den Umlandgemeinden schon dazu geführt, daß seit den letzten Jahren riesige Einkaufszentren im "Speckgürtel" Berlins entstehen.

Der Berliner Senat lehnt jedoch, Grundsatzentscheidungen zufolge, das "Mobilitätsmodell Los Angeles" ab und strebt dagegen einen umwelt- und stadtverträglichen Verkehr an. So wurden z.B. für die Innenstadt Berlins durchaus ambitionierte Zielwerte beschlossen, nach denen im zentralen Bereich künftig ein Modal Split von nur 20 Prozent MIV (Motorisierter Individualverkehr) und 80 Prozent ÖPNV erreicht werden soll, während innerhalb des S-Bahnrings künftig immerhin noch mindestens 60 Prozent mit öffentlichen Verkehrsmitteln und dagegen nur 40 mit dem Pkw fahren sollen (1994 ist das Verhältnis noch umgekehrt: 60% MIV ö 40% ÖV). Gleichwohl wird bei der Gegenüberstellung von hohen verkehrspolitischen Zielen und den konkreten Maßnahmen ein Mißverhältnis offensichtlich: Die geplanten und teilweise umgesetzten Maßnahmen sind für derartige Verlagerungsstrategien nicht nur nahezu wirkungslos, sondern teilweise auch kontraproduktiv. So wird weder die Kapazität für den ÖPNV

in ausreichendem Umfang geschaffen, um das zukünftige Verkehrsaufkommen aufzunehmen, noch werden wirkungsvolle Beschränkungen für den Autoverkehr eingeführt, die "zum Umsteigen" verleiten könnten. Die realen Ent-wicklungen zeigen entsprechend auch zwischen 1990 und 1994 eine Zunahme des Energieverbrauchs im Verkehrsbereich um 15 Prozent. Besondere Brisanz gewinnen diese Trends vor dem Hintergrund des Senatsziels, die CO2-Emissionen pro Kopf bis zum Jahr 2010 um mindestens ein Viertel (Basisjahr 1987) zu senken.

Trotzdem dominiert in der Berliner Ver-kehrspolitik das Handlungsmuster der Kapazitäts-bzw. Infrastruktur-Orientierung für den motorisierten Verkehr. Eine hohe Priorität wird dabei dem MIV, durch einen leistungsstarken Ausbau von Straßen und Autobahnen eingeräumt (z.B. Stadtring, Tiergartentunnel). Im ÖPNV-Bereich fand ein nennenswerter Infrastrukturausbau vornehmlich bei der S-Bahn statt, wobei stillgelegte Verbindungen wiederhergestellt wurden (z.B. Lückenschlüsse, Südring) bzw. noch werden sollen (Nordring, Umlandverlängerungen). Demgegenüber werden vergleichsweise kostengünstige Maßnahmen zur Förderung des umweltfreundlichen Fahrrad- und Fußverkehrs, der über ein Drittel der Wege in Berlin ausmacht, nahezu völlig vernachlässigt.

Das mangelnde Interesse der Verkehrsverwaltung an Verminderungen des Autoverkehrsanteils wird insbesondere an den Maßnahmen deutlich, die nicht umgesetzt werden, jedoch zu Verhaltensänderungen beitragen könnten, wie Erfahrungen anderer Städte zeigen. So wurden Beschleunigungsmaßnahmen, die dem ÖPNV nicht nur Attraktivitäts-, sondern auch Kostenvorteile bringen würden, nur zögerlich umgesetzt. Das Busspurnetz wurde seit 1990 lediglich von 40 auf rund 85 km ausgeweitet, obwohl der Senat ursprünglich die Ausdehnung auf 400 km beabsichtigt hatte. Flächendeckende Ampelvorrangschaltungen für Busse und Bahnen, die in der Schweiz seit den 80er Jahren mit großem Erfolg betrieben werden, fehlen in Berlin. Die im Vergleich zu anderen Städten sehr spät eingeführte Parkraumbewirtschaftung (1995) in drei "Pilotgebieten" erfährt bislang nur zaghafte Ausdehnung, wobei die Parkgebühren und Preise für Anwohnervignetten darüber hinaus zu gering sind, um den Pkw-Verkehrsanteil merklich zu verringern. Schließlich könnte auch die Umwidmung von Straßenverkehrsflächen zugunsten des Fahrrad- und Fußverkehrs bzw. zugunsten der Straßenbahn ö nach dem "Modell Amsterdam" ö Modal Split-Veränderungen bewirken. Umwidmungen fanden bislang jedoch vor allem zugunsten des MIV statt (Aufwertung von Regional- zu überregionalen Straßen).

Die Verkehrspolitik wird derzeit durch ein abgeschlossenes Interessensyndrom aus Wirtschafts-, Bau- und Autoverbänden sowie konservativen Politik- und Verwaltungsspitzen dominiert, die einer obsoleten Vorstellung von Modernität anhängen. Individualität und Freiheit als auch wirtschaftliche Entwicklung der modernen Stadt werden dabei durch den "frei und schnell fließenden Straßenverkehr" symbolisiert. Das Aufbrechen dieses "traditionellen" Modernitätsbegriffs wird erschwert durch einen hohen Grad an Intransparenz, institutioneller Unzugänglichkeit und Fragmentierung der Verwaltung. Eine Veränderung dieser Restriktionsfaktoren sind wichtige Erfolgsbedingungen für eine konsistente und koordinierte stadtverträgliche Mobilitätspolitik in der Region Berlin.

Der offenen Auseinandersetzung mit dem städtischen Leitbild ("In welcher Stadt wollen wir leben?") muß die Umsetzung darauf abgestimmter konkreter Einzelmaßnahmen folgen. Ohne institutionalisierte Verfahren kontinuierlichen politischen Lernens ist eine nachhaltige Stadt- und Verkehrsgestaltung jedoch kaum vorstellbar.

Stefan Bratzel


Stefan Bratzel ist Diplom-Politologe und Mitarbeiter der Forschungsstelle Umweltpolitik am Fachbereich Politikwissenschaft.


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