Ernst-Reuter-Preis '96: Das weite Feld der Wissenschaft - Fünf ausgezeichnete Dissertationen

Von Molekülen und Korallen - über Dichter und Maler - und den Zufall

Die Preisträger: Helmut Hühn
Wolf-Dietrich Hardt
Stephanie Buck
Fritz Neuweiler
Bernd Gärtner

Das Erinnern

Es war Hölderlins letzte Hymne, das Gedicht Mnemosyne, das Helmut Hühn nicht mehr losgelassen hat. Aus dem Bemühen, im Verstehen dieses Textes weiter zu kommen, ist die Konzeption der Arbeit erwachsen, die einen Beitrag zur entwicklungsgeschichtlichen Rekonstruktion von Hölderlins Denken liefert.

Es handelt sich um eine philosophische Auslegung, die den Denker gleichwohl nicht vom Dichter trennt. In detaillierten Interpretationen werden fünf Stadien des Hölderlinschen Denkweges untersucht: die letzte Fassung des Romans Hyperion, die Briefe Über Religion, der theoretische Entwurf Das untergehende Vaterland..., die Sophokles-Anmerkungen, hier insbesondere die Anmerkungen zum Oedipus, und die sogenannte "letzte Hymne" Mnemosyne. Vor dem Hintergrund von Hölderlins Reflexion auf Zeit und Geschichte wird transparent, warum Erinnerung zu einem Leitmotiv seines Denkens wird und wie seine Auffassung von Erinnerung sich wandelt.

Die Arbeit erscheint diesen Monat im Metzler-Verlag unter dem Titel: "Mnemosyne. Zeit und Erinnerung in Hölderlins Denken".


Die RNA-Welt

Wolf-Dietrich Hardt, der derzeit an der State University of New York arbeitet, hat die molekularen Grundlagen der katalytischen Funktion von RNA-Molekülen am Beispiel der Ribonuklease P des Darmbakteriums E. coli untersucht. Durch die Entwicklung neuer methodischer Ansätze gelang es ihm, entscheidend zum Verständnis der Funktionsweise dieses RNA-Enzyms beizutragen.

Es gilt als gewiß, daß sich bereits vor der Entstehung der ersten lebenden Zelle vor rund 3,5 Milliarden Jahren primitive Vorformen eines zellulären Stoffwechsels (z.B. an Mineraloberflächen) entwickelt haben. Ein weiteres Schlüsselereignis dieser frühen Phase der Evolution könnte die Entstehung von Makromolekülen gewesen sein, die gleichzeitig als Informationsspeicher dienten und die in der Lage waren, einfache Stoffwechselprozesse und auch ihre eigene Vervielfältigung zu katalysieren. Wahrscheinlich waren einzig die Ribonukleinsäuren(RNAs) in der Lage, diese verschiedenen Funktionen in sich zu vereinigen. Mit Recht kann man deshalb von einer "RNA-Welt" als frühe Phase der Evolution sprechen.


Holbeins Heinrich

Er war der Hofmaler von Heinrich VIII., der England von 1509 bis 1547 regierte. Die Königporträts des in Augsburg geborenen und in London gestorbenen Hans Holbein des Jüngeren (nur wenige Originale, meist sind es Kopien) prägen unser heutiges Bild des englischen Monarchen.

Stephanie Buck forschte bereits in ihrer Magisterarbeit über Holbein. Thema war die Darmstädter Madonna von 1526/28. Dabei bemerkte sie, daß das übliche kunsthistorische Bild von Holbeins Interpretation Heinrichs VIII. nicht dem ihren entsprach. Trotz der umfangreichen Forschungsliteratur beschäftigte sich bisher keine Studie zusammenhängend mit den Porträts der Werkgruppe anders als unter ikonographischer Fragestellung.

Da sich Holbeins Heinrich-Darstellungen nicht nur in Funktion, Maßen und Ikonographie voneinander unterscheiden, sondern auch in der künstlerischen Technik, stellt jedes Werk spezifische kunsthistorische Fragen, die Holbeins Arbeitsmethoden und Stil ebenso betreffen wie die Gattungsgeschichte und Ikonographie des höfischen Porträts.

Zwei Züge prägen Holbeins Kunst generell und die Heinrich-Darstellungen insbesondere: die Internationalität seines Stils und der Pragmatismus, mit dem er arbeitsökonomisch vorgeht. Ersterer Aspekt macht Holbein zum idealen Hofkünstler Heinrichs VIII., dessen Person und Politik entscheidend davon geprägt waren, alle anderen europäischen Herrscher, namentlich Franz I. und Karl V., zu übertreffen. Den Wunsch des Königs, als überragender Herrscher porträtiert und als solcher verewigt zu sein, erfüllt Holbein, indem er in seinen Kompositionen auf zeitgenössische Werke der internationalen Renaissance rekurriert. Gleichzeitig kommentiert er die Selbstsucht des Königs subtil, so daß seine Werke vielschichtig gelesen werden können.


Leben am Riff

Moderne Korallen/Kalkalgen- Riffgemeinschaften, wie wir sie heute aus den tropischen und subtropischen Flachmeerarealen kennen, entwickelten sich erst während der Kreidezeit vor etwa 100 Millionen Jahren. Im Gegensatz dazu steht eine erdgeschichtlich äußerst konservative Riffgemeinschaft aus Mikroben und Schwämmen, die die ältesten Metazoen-Riffe der Erdgeschichte darstellen und die in den unterschiedlichsten Wassertiefen vorkommen können.

Fritz Neuweiler, der sich in seiner Diplom-Arbeit mit den Oberkreide-Sedimenten des niedersächsischen Raumes befaßt hatte, verglich in seiner Dissertation beide Rifftypen am Beispiel einer unterkretazischen Schichtfolge, aufgeschlossen in der nordspanischen Provinz Cantabria. Während in Korallen/Kalkalgen-Riffen konkrete Lebensvorgänge die Skelettmineralisation und damit die Riffbildung steuern, spielt die Freisetzung reaktiver organischer Verbindungen die Schlüsselrolle bei Mikroben/Schwamm-Riffen.

Seit September vergangenen Jahres ist Neuweiler wissenschaftlicher Assistent an der Universität Göttingen.


Simples Würfeln

Bei einer Diät steht man vor dem Problem, aus den verfügbaren Lebensmitteln einen Speiseplan zusammenzustellen, der den Körper mit den notwendigen Mengen an Nährstoffen und Vitaminen versorgt, gleichzeitig aber die aufgenommenen Kalorien minimiert.

Mit den Augen des Mathematikers Bernd Gärtner gesehen, handelt es sich dabei um ein Problem aus der linearen Optimierung. Das bekannteste Verfahren derartige Probleme zu lösen, ist der Simplex-Algorithmus.

Beim Diät-Problem könnte man seine Arbeitsweise mit der eines vergeßlichen Diät-Beraters vergleichen, dem der optimale Speiseplan entfallen ist. Wenn man ihm aber einen Plan vorlegt, wird er solange Verbesserungsvorschläge machen, bis der optimale Plan - den er dann wiedererkennt - erreicht ist. Wie gut diese Strategie der schrittweisen Verbesserung ist, hängt von der Anzahl der Schritte ab, die nötig sind, um zur Lösung zu kommen.

In der Arbeit werden der Simplex-Algorithmus und "simplex-artige" Methoden für andere, nichtlineare Optimierungsprobleme dahingehend untersucht. Die Schlußfolgerung ist verblüffend: Es kann sinnvoll sein, den Zufall einzusetzen ö der Algorithmus "würfelt". Solche Würfel-Verfahren sind weniger anfällig für Unwägbarkeiten des Problems und ermöglichen in einigen Fällen überhaupt erst Aussagen über die Effizienz.

Die Arbeit ist übrigens im Internet verfügbar unter http://www.inf.fu-berlin.de/~gaertner.

FU:N


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