Mutter, Elisa, meine Schwester, und ich, wir wohnten in einem Dorf in Niedersachsen in einem Zimmer, das die Engländer dem Großbauern Sanders weggenommen hatten. Alle Bauern hatten ein solches Zimmer, das nur zu hohen Feiertagen geöffnet und von ihnen aus seinem Schlaf geweckt wurde. Für die Engländer war es unbewohnt.
Wie sollten sie auch bei ihrem kurzen Besichtigungsbesuch die Anwesenheit der vielen wahrnehmen, deren Taufe und Hochzeit hier gefeiert worden war und die, als ihre toten Hülsen von hier aus ihren ordentlichen Weg zum Friedhof antraten, in heimlicher Widerspenstigkeit blieben. Elisa und mir flüsterten sie manchmal im Traum zu, sie lehrten uns sogar das Fliegen, aber davon erzähle ich später, und legten, wenn wir, spielversunken, nicht auf sie achteten, kleine Geschenke dahin, wo wir sie finden konnten. Mutter sagte dann, Es waren die Heinzelmännchen. Wie alle Erwachsenen glaubte sie, daß Wörter etwas erklären.
Ebenso wie dieses Zimmer hatten die Engländer den Mann, der Vater hieß, aus Berlin weggenommen und uns alle nach Niedersachsen gebracht. Der Krieg sei endgültig aus – wurde gesagt –, und Vater sollte in Munsterlager, wo Frauen und Kinder nicht geduldet waren, Soldaten aus diesem letzten Krieg ‘entnazifizieren’. Elisa und ich hörten aus den Reden der Erwachsenen, daß der Vorgang, der in diesem seltsamen Wort beschlossen lag, sich oft von selbst erledigt hätte. Vielmehr müßten die Soldaten entlaust werden und dann zwischen den Trümmerbergen wiederfinden, was von ihrem früheren Leben übrig war. Den leisen Anwesenheiten in unserem Zimmer war es besser ergangen. Sie wußten, wohin sie gehörten. Trotz ihrer Gastfreundlichkeit wußten wir es nicht in unserem Raum zwischen Nichtmehr und Nochnicht.
So brachen wir eines Tages auf zu unserem Besuch dieser Stätte, Munsterlager, die wohl in ihrer eigenen Zeit der unseren glich.
Und ich fürchtete mich. Wegen der dunklen Wolke.
Mit Elisa hatte ich lange schon darüber sprechen wollen. Wir taten und träumten fast alles gemeinsam. Mit ihren bald fünf Jahren war Elisa sechzehn Monate klüger als ich. Wenn wir im Dorf auf der Straße vor dem Bauernhaus spielten und sie ein Motorrad kommen hörte, griff sie mich, zog mich in den Vorgarten und riegelte die Pforte hinter uns zu. Aber die Wolke war zu schwierig. Ich war ratlos und schämte mich auch ein wenig, obwohl ich fühlte, daß Elisa davon genauso bedrückt war.
Es ging um Mutter. Zuerst hatte die Wolke ihr allein gehört. Wann immer der Mann namens Vater – selbst, oder in Worten – uns begegnete, drang aus ihr diese dunkle Traurigkeit, in der sie fast unsichtbar und fern wurde und die sich auch um uns legte. Nach einiger Zeit war so viel davon in mich eingesickert, daß ein kleiner klebriger schwarzer Klumpen fest hängengeblieben war. Und der führte nun ein selbständiges Leben, hielt still und puckerte nur ein wenig, oder blähte sich aus mir als Wolke heraus, durch die ich verschwommen die anderen draußen und die entrückte Helligkeit sah, und zog sich wieder in mich zurück, ganz wie er wollte. Ich hätte gern gewußt, ob in Elisa auch so ein Klumpen saß.
Als wir in Munsterlager ankamen und Vater begrüßt hatten, ging Mutter mit ihm in eines der Holzhäuser, sein Büro. Rundum gab es zwischen den Kiefern noch viele ähnliche Häuser und einen Hof in der Mitte; dahinter ein Bahngeleise, das bei der Anlage endete. Die grauen Männer, die teilnahmslos überall herumschlenderten oder standen, hatten offenbar ebensowenig Lust zu spielen wie wir. Als wir einen Zug kommen hörten. Wir schlüpften durch den Zaun und gingen an das Gitter vor dem Geleise. Der Zug hielt dampfend und schnaufend. Die Türen öffneten sich. Und unsere Erwartungsfreude zerfiel in beschädigte Stücke, staksende Gliederpuppen, in Lumpen, sich gegenseitig stützend und schiebend. Auch die wenigen, denen nicht einige Teile fehlten oder verkrustete Binden um die Köpfe gewickelt waren, sahen irgendwie zerbrochen aus. Als hätte einer sein Spiel mit ihnen getrieben und sie dann, als sie kaputtgingen und ihn langweilten, auf den Müll geworfen.
Außer der Lokomotive war kaum etwas zu hören. Vielleicht hatten die Gestalten da, wo sie herkamen, auch die Sprache verloren.
Einer der grauen Männer zog uns von dem Gitter fort. Selbst konnten
wir uns nicht rühren. Er sagte, Das hier ist nichts für euch,
geht da drüben spielen. Wir nickten nur, ich faßte ganz fest
Elisas Hand. Mit gesenkten Köpfen trotteten wir zu dem Wäldchen.
Der verwirrende Knoten im Hals, von Furcht, Schuldgefühl, einer verbotenen
Tat, löste sich langsam auf.
In den Kiefern rauschte es leise. Käfer brummelten und schwirrten
um das Heidekraut, und sanft im Sonnenschein der Lichtung hingestreckt
wie eine dösende Kuh lag ein schneeweißer Hügel, in dessen
warme Flanke wir uns kuschelten. Träge ließen wir uns den Sand
durch die Finger rieseln. Ich war mitten in meinem Lieblingsmärchen,
das von den zwölf Schwänen – wenn uns keiner vorlas, mußte
ich immer erzählen –, und die arme Königstochter sammelte gerade
nachts Nesseln für die Hemden ihrer Brüder auf dem Friedhof,
da unterbrach mich Elisa. Guck mal, sagte sie, der Sand ist gar nicht nur
weiß. Und wirklich, aus vielen Körnern schossen winzige bunte
Blitze, rot und grün und blau. Das sind Edelsteine, behauptete ich,
wie in der Höhle von Ali Baba. Immer wieder ließen wir staunend
die Edelsteine funkeln.
Und dann legte sich ein Unheil über die ganze Welt und schluckte
die Sonne und die Wärme und die Farben: Irgendwo hoch über uns
ertönte eine schaurige langgezogene Klage. Wir erstarrten und sahen
uns an. Da war sie wieder, diesmal näher, körperlos, aber jetzt
allgegenwärtig, quoll zwischen den Baumstämmen hervor, hob neu
an, dehnte sich ins Unermeßliche, tastete sich an uns heran; schreiend
sprangen wir auf die Füße und hasteten stolpernd und schluchzend
weg, nur weg von dem Schrecken, der nach uns griff. Da stand Mutter, allein
in dem Lagerhof. Wir krallten uns in ihren Rock und preßten unsere
Gesichter weinend an ihren Körper. Nur langsam kamen wir zu Atem und
konnten stockend von dem Unsichtbaren erzählen, auch ein wenig seine
Laute nachahmen. In Mutters sehr dunkler Wolke blinkerte die Andeutung
eines Lächelns. Es war doch nur eine Waldtaube, sagte sie.
Eine Waldtaube. Ein Wort. Vorläufig ein schützender Kreis.
Aber wie lange?