Über das Finden

Als der Krieg schon über drei Jahre aus war, wurden wir, Mutter, meine Schwester Elisa und ich, in eine Sommerfrische geschickt. Ein klappriges, altes Holzhaus bei Walsrode, das sich Gasthof nannte.

Ganz leicht wurde mir, für einige Zeit woanders zu wohnen und zu schlafen als in dem Zimmer in dem Dorf, wo wir nicht hingehörten. Für einen Gasthof versteht es sich von selbst, daß man fremd ist.

Der unsere war bezaubernd wie ein Hexenhäuschen im Wald mit einem spitzen Giebeldach und einer Veranda rundherum; nur war es von schaurigen Namen umgeben. Die Senke vor uns, voller Heidekraut, Ginster und Wacholder, hieß Totengrund, das Wassergerinnsel dazwischen Blutbach.

Irgendwann kam Vater mit dem Fahrrad aus Munsterlager. Meine Schwester und ich hatten eine leuchtende blaue Eichelhäherfeder gefunden. Wir schenkten sie ihm. Er steckte sie an seinen grünen Filzhut und radelte wieder davon.

Dann wollte Mutter eines Nachmittags Pilze mit uns suchen. Ausflüge mit ihr waren nie einfach. Sie mußte immer auf ihre Hände sehen, um zu wissen, wo links und rechts ist.
Wir wanderten durch den Totengrund, fanden aber keine Pilze. Nur jenseits eines Waldes alte Schützengräben der Engländer, in denen schwarze Käfer krabbelten, und einen Stahlhelm mit einem großen Loch.
Hinter dem weiten Gräbenfeld lagen dunkelblaue Hügelketten mit verkohlten Baumskeletten, die in der Ferne an der blutroten Sonne kratzten. Es war Zeit umzukehren.
Mutter erkundigte sich bei ihren Händen und leitete uns zurück in das Waldstück, aus dem wir gekommen waren; sagte sie, Elisa und ich waren uns nicht so sicher. Unter den Bäumen verdichtete sich schon die Dämmerung. Wir konnten kaum mehr etwas erkennen, erst recht keine Pilze. Mutter sagte, es hätte sowieso keinen Sinn weiterzusuchen, sie würden am Abend die Köpfe einziehen und schlafengehen.
Als der Wald sich endlich dunkel hinter uns schloß, verschwanden die letzten Sonnenstrahlen und hinterließen einen rosa Schimmer auf den Birken, die uns ganz fremd in einem weiten Kreis umgaben. Wir setzten uns auf einen gestürzten Stamm und weinten alle ein wenig vor Erschöpfung und Hunger und Hoffnungslosigkeit. Nie würden wir unseren Weg wiederfinden.

Wie aus der Erde gewachsen stand vor uns ein Mensch, den wir kannten. Er gehörte zu unserem Gasthof und trug einen Eimer randvoll mit Pfifferlingen. Was? sagte er, Ihr könnt den Weg nicht finden? Das Haus ist doch da drüben hinter den Birken. Man kann es von hier aus fast sehen.
Mit ihm zusammen fanden wir unser flüchtiges Zuhause, etwas beschämt.
Zum Abendessen gab es Pfifferlinge.
 

Zuckerstange

Die dunkle Wolke

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Eva Brückner-Tuckwiller