Wir waren schon öfter zu Besuch auf der russischen Seite gewesen. Schließlich hatten wir, Mutter, meine Schwester Elisa und ich, den ganzen Krieg über da bei Großmutter, draußen vor Berlin, gewohnt. Weil es sicherer war, hatte Mutter gemeint. Aber so sicher war es auch wieder nicht. Die Flieger kannten sich nachts nicht gut aus und warfen aus Versehen ihre Bomben auf unseren unwichtigen Ort, statt auf Zernsdorf daneben, wo die Kanonen gebastelt wurden.
Für mich hatte der Krieg eineinhalb Jahre gedauert, für Elisa
noch ein Jahr und ein paar Monate länger.
Das war alles jetzt viele Jahre her. Mindestens zwei.
Als wir uns das erstemal auf die Reise zu Großmutter gemacht hatten, fing gerade der Herbst an; auch das war schon lange her, inzwischen war Weihnachten gewesen. Mutter hatte uns erzählt, wir müßten schwarz über die Grenze gehen, weil wir keine Papiere hätten. Und alle drei zusammen, weil sie niemanden hätte, bei dem sie uns abgeben könnte. Elisa und ich lachten vor Freude. Wir dachten, wir dürften uns ganz schwarz anmalen. Es war etwas anders. Schwarz bedeutete: Schleichen und nicht erwischt werden, sonst würde man vielleicht erschossen. Das wollten wir natürlich nicht und übten ein bißchen mit Mutter.
Es ging dann so: Erst fuhren wir eine Weile von unserem geliehenen Dorfzimmer in Niedersachsen aus mit dem Zug, der seine eigenen Zeiten hatte, weil viele Strecken noch kaputt waren. Hinter Gifhorn stiegen wir aus, wanderten auf Sandstraßen durch den Wald und irgendwo in der Nähe vom Zaun, der Grenze hieß, seitwärts in die Büsche. Da warteten wir mucksmäuschenstill, bis es dunkel war und der russische Soldat im Dienst unseren Abschnitt hinter sich gebracht hatte. Vielleicht war es jedesmal derselbe, er sang oder pfiff immer. Es klang wie eine freundliche Botschaft. Hier bin ich, und langsam gehe ich weiter, und gleich bin ich weg. Vielleicht fürchtete er sich auch nur.
Wir blieben noch eine Weile still. Daß Sprechen oder Weinen sehr gefährlich ist, hatten Elisa und ich gelernt, als wir mit Mutter nachts in einer Gartenlaube horchten, wie Soldatenstiefel rundum die Türen eintraten. An unserer polterten sie nur ein bißchen. Mutter hatte unser Versteck gut ausgesucht, es war zu schäbig.
Jetzt im Gebüsch brauchten wir nur noch auf den Stups in die Seite zu warten, huschten über das Brachland zum Zaun, den Mutter auseinanderzog, und hindurch bis zum nächsten Gebüsch. Darin hockten wir wieder ein Weilchen, bevor wir weiter durch den Wald schlichen und erst beim nächsten Bahnhof aus der Dunkelheit auftauchten. Mein Herz klopfte die ganze Zeit so laut, daß jeder Soldat es eigentlich über viele Meter hätte hören müssen. Aber nicht einmal die vierzig Räuber, die sich überall durch knackende Zweige verrieten, merkten etwas. Wenn man die Angst wegstreicht und daß es immer kalt und dunkel war und wir immer Hunger hatten, war es ein lustiges Spiel.
Einmal war es gar nicht lustig. Wir hatten in Gifhorn bis in die Nacht auf dem Bahnhof gewartet. Eisiger Wind wirbelte Schneeflocken durch die offene Halle; das Brummeln im Bauch war nicht so schlimm, das ging irgendwann von alleine weg, aber die Kälte und die Dunkelheit erstmal nicht. Eine einzige trübe Stallaterne dümpelte unter dem Dach und machte die Schatten nur noch schwärzer. Der Zug kam nicht mehr. Wir gingen zum nächsten Bunker, um ein bißchen zu schlafen. Am Eingang wurde uns gesagt, daß er abgeschlossen würde und morgens um fünf wieder geöffnet. Der riesige Raum stank noch immer vom Angstschweiß der Bombennächte, aber die vielen Körper, die da schon lagen, hatten ihn gewärmt. Zwischen ihnen fanden wir einen Platz im Stroh und schliefen. Bis uns ein Schreien weckte. Es war so furchtbar wie das Schreien des Bullen im Dorf, als er zum Schlachten geführt wurde. Ein Mann in zerlumpter Uniform stand barfuß an der Bunkertür, die längst geöffnet war. Jemand hatte ihm im Schlaf die Schuhe gestohlen und sich davongemacht. Draußen fror es.
Diesmal war alles anders. Ohne Versteckspielen. Mutter hatte Papiere
für uns drei. Nur nicht für Großmutter. Deswegen warteten
wir auf der Bank, wir wußten nicht einmal mehr, worauf. Der russische
Kommandant in der Holzhütte wollte sie nicht mit uns gehen lassen.
Mutter war gerade zum zweitenmal zu ihm hineingegangen. Nach dem erstenmal
war sie ganz bleich herausgekommen. Wir hörten sie sagen, Er ist ein
junger russischer Jude. Er ist sehr verbittert.
Elisa und ich hatten uns kurz angesehen. Ihr Gesicht zeigte mir, wie
meines aussah, schwarz verschmiert mit weißen Streifen, wo die Tränen
herunterliefen. Nur Großmutter war so ruhig wie immer. Hager und
aufrecht saß sie in ihrer schwarzen Kleidung neben uns auf der Bank,
die Augen in die Ferne gerichtet, die Hände über dem Schuhkarton
gefaltet, der ihr Kostbarstes enthielt. Am Abend vorher hatten wir zugesehen,
wie sie ihn packte. Ein Familienbuch und Photos von all ihren Toten, obenauf
ein gerahmtes Bild von Onkel Günther in Luftwaffenuniform, dem jüngsten
ihrer Söhne, dazu ein Brief von einem General Kesselring, in dem er
schreibt, wie leid es ihm täte, daß Onkel Günther mit seinem
Flugzeug in Sibirien verschwunden sei.
Wir waren nicht die einzigen, die warteten. Auf der anderen Bank saßen drei alte Leute, und drüben, jenseits der geringelten Stange, stand ein verstreutes Grüppchen. Außerdem waren da noch zwei, die ganz besonders warteten. Eine Frau bei uns vor der Stange und ein Mann dahinter. Sie waren nur durch diese Stange und die Meter, die der Soldat mit dem Gewehr vorschrieb, voneinander getrennt und warteten so sehr, daß sie ganz allein auf der Welt waren. Sie umschlangen sich mit Blickbändern, und um sie wölbte sich ihr eigener Himmel. Hin und wieder bewegte sich einer von ihnen, um die Tränen wegzuwischen. Das Gesicht des Mannes drüben war nur Augen und ein leises Lächeln.
Keiner sagte etwas. Ich starrte weiter auf die Stange, bis sie zu tanzen anfing. Wie hatte sie sich so verändern können. Das letztemal, nein, auch das erstemal, hatte ich sie auf dem Jahrmarkt in unserem Dorf gesehen. Da war sie eine von vielen Zuckerstangen gewesen, alle gleich schön. Rot und weiß geringelt. Vater war aus Munsterlager gekommen und mit uns zu diesem Platz voller Lärm und Gerüche gegangen. Leute schrien laut, aber nicht weil sie Angst hatten; weil es ihnen Spaß machte, auf kleinen Bänkchen an langen Ketten um ein buntes Ding zu wirbeln, das, auch sehr laut, wimmernde Töne machte. Wir wurden geschubst und gedrängelt, aber ohne die Ziele, die wir sonst kannten, ein Platz im Bunker, in der Bahn, einfach aus Lust am Weitergehen. Es war so Wunder voll, daß ich mich auflöste und unvorsichtig wurde, nach allen Seiten herumschwamm und dann vor dem Altar mit den Zuckerstangen landete. Sie waren fast so groß wie ich. Sie lockten, sie dufteten mich an, ich betete sie an. Aber sie waren scheu. Keine sprang zu mir herüber und sagte, Hier bin ich, dir gehöre ich. Vater war mit Elisa weitergetrieben. Einen Fremden darf man nicht bitten, hatte ich gelernt. Auf Wiedersehen, Zuckerstange.
Hier sah ich sie wieder. Meine Begehrte. Sie sah fast so aus wie vorher, als ich mich verliebte. Aber sie war nicht mehr scheu. Sie war hart und unbeweglich.
Mutter kam wieder zurück vom Kommandanten. Jetzt weinte sie auch
noch.
Ich weiß nicht weiter, sagte sie zu Großmutter, die nur
nickte und nicht einmal den Kopf wandte. Er sagt einfach nichts. Aber ich
gehe noch einmal hinein. Sie griff Elisa und mich bei den Händen und
zog uns hinter sich her in den Raum des Kommandanten. Darin war fast nichts
als Dämmerung. Vor dem einzigen Fenster mit dem Rücken zu uns
saß eine Gestalt an einem Schreibtisch. Mutter sagte, Bitte, sie
ging einige Schritte weiter auf den Rücken zu, der schmal und schwarz
war vor dem grauen Viereck. Bitte, sagte sie, lassen Sie uns gehen. Wir
wollen doch nur meine Mutter zu uns holen. Bitte. Die Schwärze blieb
reglos. Mutter zog sich näher, kniete fast hinter dem stillen
Umriß. Ich bitte Sie, Sie haben doch auch eine Mutter.
Ich hatte eine, sagte die Gestalt zum Fenster. Bis ihr gekommen seid.
Sie ist in Theresienstadt gestorben. Dann wirbelte er auf seinem Drehstuhl
herum und schrie, Dawai, dawai, geht, ihr alle, ich will keinen von euch
je wiedersehen. Wir hasteten zur Tür. Sein Dawai, dawai peitschte
gegen unsere Waden und Rücken und trieb uns hinaus.
Mutter sagte den anderen, was der Kommandant gesagt hatte. Wir sammelten
alle schweigend unsere Dinge zusammen. Vor uns hob sich die Zuckerstange
und gab den Weg frei.
Ein Stein war uns vom Herzen gefallen und blieb da bei der Hütte.
Einen neuen nahmen wir mit.