Text aus:
Herwig Büchele und Lieselotte Wohlgenannt:
Grundeinkommen ohne Arbeit
1985, ISBN 3-203-50898-2
Katholische Sozialakademie Österreich

Inhalt: Grundeinkommen ohne Arbeit

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1.3. Exkurs: Speenhamland 1795 bis 1834 - Recht auf Einkommen im England der Industrialisierung

Das einzige aus der Geschichte bekannte System einer Einkommensgarantie ist das von Karl Polanyi6 beschriebene Speenhamland-Gesetz, das im Jahre 1795 von den Friedensrichtern von Berkshire in einer Zeit großer Not der von ihrem Land vertriebenen Armen beschlossen wurde. Die Armenunterstützung richtete sich nach dem Brotpreis: kostet ein Vier-Kilo-Laib Brot von bestimmter Qualität einen Schilling, dann "soll jeder Arme und arbeitsame Mann zu seiner Unterstützung drei Schilling wöchentlich bekommen, die er sich entweder durch eigene Arbeit oder die seiner Familie erwirbt, oder einen Zuschuß aus dem Armenfonds, und für den Unterhalt seines Weibes und jedes weiteren Familienmitgliedes 1 Schilling und Sixpence, wenn der Brotlaib 1 Schilling und Sixpence kostet, dann 4 Schilling wöchentlich, plus... " usw.

Dieses "Recht auf Lebensunterhalt" sollte sich zum Schaden derer, denen es eigentlich helfen sollte, entwickeln. Die rasch wachsende Zahl von Arbeitslosen und die 1799/1800 beschlossenen Antikoalitionsgesetze, die den Arbeitern verboten, sich zusammenzuschließen, führten dazu, daß die Löhne gerade wegen dieser Unterstützung im ländlichen Raum unter deren Niveau blieben. Die Arbeitgeber konnten zu jedem, auch dem niedrigsten Lohn, Arbeiter bekommen; diese wieder hatten keinerlei Grund, sich sonderlich zu mühen, bekamen sie doch gleichviel, egal, ob sie gut, schlecht oder überhaupt nicht arbeiteten. Die Löhne sanken tiefer und tiefer, die Abhängigkeit der besitzlosen Arbeiter von der Armenhilfe wurde immer absoluter. "Im Speenhamlandsystem wurde die Gesellschaft von zwei entgegengesetzten Einflüssen zerrissen: der eine kam aus dem Paternalismus und schützte die Arbeiter vor den Gefahren des Marktsystems; der andere faßte die Produktionsfaktoren, einschließlich des Bodens, in einem Marktsystem zusammen, beraubte dadurch die einfachen Menschen ihres früheren Status und zwang sie, sich ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft zu verdienen, während er gleichzeitig ihre Arbeitskraft ihres Marktwertes beraubte 7.

"Es entstand eine neue Klasse von Arbeitgebern, während sich eine ihr entsprechende Klasse von Arbeitnehmern nicht konstituieren konnte. Eine neue, gigantische Welle von Einfriedungen überflutete das Land und brachte ein ländliches Proletariat hervor, das durch die falsche Anwendung des Armenrechts daran gehindert wurde, den Lebensunterhalt durch eigene Arbeit zu verdienen. Es nimmt daher nicht Wunder, daß die Zeitgenossen entsetzt waren über den offensichtlichen Widerspruch zwischen einem fast wundersam anmutenden Produktionszuwachs und den hungernden Massen. 8"

Das "Recht auf Einkommen" wurde 1834 aufgehoben; was folgte, war die Zeit größten Massenelends in der Geschichte Englands.

Bei aller Unterschiedlichkeit der Situation zwischen dem England des beginnenden 19. Jahrhunderts und den Industrieländern des ausgehenden 20. Jahrhunderts gibt es eine Parallele: jene einer grundlegenden Umgestaltung der wirtschaftlichen Systeme und der Verteilungsmechanismen.

Vor der Speenhamland-Periode bestand in England der größte Teil der Bevölkerung aus Kleinbauern und Kleinpächtern, die entweder von ihrer kleinen Landwirtschaft lebten oder mit Hilfe eines Gartens, eines Kartoffelfeldes, einer Kuh oder Ziege auf der Gemeindeweide den aus der Heimindustrie gewonnenen Lebensunterhalt aufbesserten. Durch die Welle der Einfriedungen zugunsten von Schafzucht und moderner großflächiger Landwirtschaft wurden ihnen Felder, Gärten und Weiderechte und damit die Existenzgrundlage entzogen. Die Einkommensverteilung über Besitz- beziehungsweise Nutzungsrecht an Grund und Boden konnte aufgrund einer "Umverteilung nach oben" nicht mehr funktionieren. Da im Rahmen des Speenhamland-Systems keiner, der Land besaß, Unterstützung erhalten konnte, die Löhne in der Landwirtschaft jedoch gerade als Folge der Unterstützungen weit unter das Lebenshaltungsniveau sanken, wurde das System zu einer Subventionierung du Arbeitskräfte beschäftigenden Grundbesitzer (die die Subventionen auf der anderen Seite auch großteils aufzubringen hatten) und ermöglichte diesen, sich "ihre" Armen als Arbeitskraftreserve am Ort zu erhalten. Da die landbesitzenden Kleinbauern aufgrund der niedrigen Löhne keine Möglichkeiten mehr hatten, sich den für den Lebensunterhalt notwendigen Zuverdienst zu beschaffen, wurden auch sie mehr und mehr in den Armutsstrudel hineingerissen.

Die Einrichtung eines neuen, funktionierenden Verteilungssystems über den Arbeitsmarkt erfolgte unter großen sozialen Kosten.

Das damals entstandene Verteilungssystem über die Arbeit, das heute in allen Industrieländern der wesentlichste Faktor der Zuteilung von Lebenschancen und Status ist, büßt mehr und mehr seine Funktionsfähigkeit ein. Ein Rationalisierungsschub sondergleichen, der in hohem Ausmaß auch die Dienstleistungsberufe erfaßt und trotz Wirtschaftswachstum und Arbeitszeitverkürzung zu wachsender Arbeitslosigkeit in den Industriestaaten führt, läßt gleichzeitig die ebenfalls an die Arbeit gebundenen sozialen Netze in die Krise geraten. Wie die Engländer des 19. Jahrhunderts stehen wir vor dem Paradox einer nie dagewesenen Güterfülle und steigender Armut - auch wenn heute Arbeitslosigkeit kein Armenhauselend bedeutet. Was wir inzwischen an Wissen und Mitteln hinzugewonnen haben, sollte es uns ermöglichen, diese neue Verteilungskrise mit weniger sozialen Kosten als damals zu bewältigen.

 

Zusammenfassung:

Weder das geschichtliche Experiment von Speenhamland, noch die zeitlich und bevölkerungsmäßig beschränkten US-amerikanischen Versuche mit einer Einkommensgarantie lassen Schlüsse darauf zu, welche Folgen die Einführung eines die Grundbedürfnisse abdeckenden Rechts auf Einkommen für alle, unabhängig von einer Arbeitsleistung, nach sich ziehen würde. Die amerikanische Diskussion und die breite Unterstützung, die die Idee dort von Seiten der Ökonomen verschiedenster Lager gefunden hat läßt darauf schließen, daß sie vom ökonomischen Standpunkt ernst zu nehmende Vorteile bietet: Verwaltungsvereinfachung und dadurch bedingte Einsparungen, Effizienz durch Einbeziehung aller in Frage kommenden Gruppen und Personen, Schaffung zusätzlicher Nachfrage und Nutzung von Überkapazitäten der Wirtschaft durch Anhebung der niedrigsten Einkommen, Subventionierung von Tätigkeiten (im informellen oder im formellen Sektor), die notwendig oder sinnvoll, jedoch marktwirtschaftlich nicht finanzierbar sind. Insgesamt würde damit nicht nur mehr soziale Gerechtigkeit hergestellt, sondern gleichzeitig Freiräume eröffnet für eine sinnvolle Weiterentwicklung der Wirtschaft und der Gesamtgesellschaft.

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