Medialist 16.97: Paradiesische =?iso-8859-1?Q?Zust=E4nde?=

Martin Recke (mr94@prenzlnet.in-berlin.de)
25 Mar 1997 11:10:15 GMT

Medialist 16.97: Paradiesische Zustände
Hgg. von Martin Recke

        Themen dieser Ausgabe:
        - ORB-Hörfunkdirektorin zur Kritik an SFB/ORB-Radioplänen
        - Portrait des kirchlichen Kommerzsenders Radio Paradiso


SFB/ORB-Radioreform: ORB prangert "Diskreditierungen und Unwahrheiten"
an  --  Steer: SFB macht sich nicht vom ORB abhängig

In ungewöhnlich scharfer Form hat ORB-Hörfunkdirektorin Hannelore
Steer die Kritik aus der Berliner Senatskanzlei an der mit dem SFB
verabredeten Zusammenarbeit im Hörfunk zurückgewiesen.  Es befremde
sehr, wie die im Grundgesetz festgeschriebene Staatsferne des
Rundfunks in der Berliner Senatskanzlei interpretiert werde, meinte
Steer am 21. März in einem Interview auf der ORB-Welle Radio
Brandenburg.  

Es werde mit "Unwahrheiten und Diskreditierungen" Politik gemacht, so
die Hörfunkchefin:  "Einer Politik, die etwas auf sich hält, ist das
nicht würdig." Ein in der vergangenen Woche bekanntgewordenes Papier
der Senatskanzlei in Berlin hatte den Anfang März paraphierten Vertrag
zwischen SFB und ORB heftig kritisiert, zugleich aber festgestellt,
daß die geplante Kooperation rechtlich weder zu beanstanden noch zu
verhindern sei (Medialist 15.97).  

SFB-Intendant Günther von Lojewski mache sich durch die geplante
Kooperation schon deshalb nicht von Abstimmungen mit dem ORB abhängig,
weil Federführung und Verantwortung der neuen Gemeinschaftswellen im
Vertrag klar geregelt würden.  Es sei auch nicht richtig, daß die in
der Nachfolge von SFB 3 geplante Kulturwelle "Radio Drei" nicht in
Brandenburg zu hören sein würde.  Die Vorbereitungen für vom ORB
beantragte Stützfrequenzen in Frankfurt/Oder und Cottbus seien im
Gange.  Hannelore Steer wies darauf hin, daß die Kosten dafür der ORB
trage.

Es zeuge von "Ignoranz", so die ORB-Hörfunkdirektorin, die
ORB-Kulturwelle Radio Brandenburg als "gescheitert" und "wenig
profiliert" zu bezeichnen.  Der jüngsten Media Analyse (MA) zufolge
zähle die Welle neben den Kulturradios von WDR, BR und SWF bundesweit
zu den erfolgreichsten Beispielen ihres Genres.  Es sei daher
"absurd", Qualitätseinbußen für das geplante "Radio Drei" dadurch zu
befürchten, daß ORB-Mitarbeiter zum SFB wechselten.  Auch ein
Personalabbau bei SFB 3 sei nicht zu erwarten.  "Eine solche
Diskreditierung" ihrer Mitarbeiter nannte Steer "unangemessen und
unwürdig".  (mr)


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Kundenfreundlich -- Ein Radio voller Tankstellen-Metaphorik / Von
Martin Recke

Die Kirche ist einfach kundenfeindlich.  So überschrieb das Hamburger
Abendblatt jüngst ein Interview mit Claudia Langer, einer
Pfarrerstochter und hauptberuflichen Chefin der Werbeagentur "...start
advertising".  Die Marke "Kirche" rufe bei ihr kein inneres Bild mehr
wach, bekannte Langer da.  Besonders störe sie, daß die Kirche sich
"nicht die Mühe macht, den Leuten zu begegnen".  Dies jedenfalls macht
Radio Paradiso anders.  

Wie der heute längst zum Kassierer reduzierte Tankwart von einst steht
das Radio da, die Zapfpistole in der Hand, und fragt kundenfreundlich
den Hörer: "Volltanken?"  Irgendwie ist den Radiomachern die in
kirchlicher Basisarbeit verbreitete Tankstellen-Metaphorik ins
corporate design gerutscht:  Ihr Produkt firmiert als "Radio zum
Auftanken", und die sekundenkurze Besinnung vor jeder vollen Stunde
heißt stabgereimt "Gedanken zum Auftanken".

Wer die mechanistische Wortwahl verkraftet, findet dort Texte von sehr
unterschiedlicher Qualität.  Das Spektrum reicht vom griffigen
Bibelwort bis zur abgedroschensten Kurzgeschichte, mit der
einfallslose Pfarrleute schon vor Jahrzehnten von der Kanzel
langweilten; die griechische Philosophie kommt ebenso zu Wort wie
Literatur und Lyrik, von heute wie von gestern, oder die Chadissim,
deren Platz im christlich-religiösen Geschichtenschatz wohl sicher
bleibt.  

Und dann läuten volltönend die Glocken, der samtsoftige Chor singt im
bestbekannten Kommerzfunk-Stil die akustische Senderkennung.
"Achtundneunzig-zwo, Radio Paradiso."  Wer dann, der vollen Stunde
wegen, auf Nachrichten gehofft hatte, wird enttäuscht:  Wirkliche
Nachrichten kann sich der Kirchenfunk modernsten Zuschnitts bis dato
nicht leisten.  Die Neuigkeiten kommen stattdessen jeweils eine halbe
Stunde später daher, putzig als "Was gibt's Neues?" betitelt.  

Das Musikformat hat Radio Paradiso fast bruchlos vom Vorgänger auf der
Frequenz übernommen, der "Soft Hit Radio" hieß wie sein Format.  Eine
"Mogelpackung" ist dieses Radio für Lutz Borgmann, den Chefredakteur
des Sonntagsblatts "Die Kirche".  Borgmann, nebenbei Vorsitzender des
Rundfunkrats beim brandenburgischen Sender ORB, wetterte von Anbeginn
gegen die Radiopläne des Kieler Presseverbands-Direktors Rainer Thun.
Die aktuelle Kritik jedoch geht ins Leere.  Denn der Funkpfarrer hatte
nichts anderes versprochen als ein kirchliches Kommerzradio.  

Und diesem Versprechen wird Radio Paradiso allemal gerecht.  Auf den
großen Sendeflächen des Tages bleibt die Station kommerzfunktypisch
wortkarg.  Der Soft-Pop plätschert sanft dahin, und die auffällige
Häufung sakraler Topoi im Musikformat bemerkt nur, wer danach sucht:
"...knockin' on heaven's door", "...when Jesus walks" -- es
überrascht, wieviel christliches Klischee doch in der Mainstream-Musik
steckt.  Sakro-Pop hingegen kommt nicht vor, bekam er doch allzu
ungünstige Werte in den vor Sendestart abgehaltenen Tests.

Und selbst Gospel oder Spiritual wird nur abends am Wochenende
gespielt, in eigenen Sendungen.  Bedauerlich, aber ebenfalls ein
Tribut an die störungsfreie Durchhörbarkeit, die der gnadenlose
Berliner Hörfunkmarkt erzwingt.  Zum Ausgleich verschont das Radio
seine Hörer auch mit den obligatorischen Gewinnspielen, mit allzu
albern-aufgedrehten Moderatoren, die sonst zombiehaft allenthalben
über die Wellen geistern.

Worthaltig wird die Welle nach 18 Uhr, in der call-in-Sendung
"Paradis-Ohr".  In den Musikpausen kommen dann Studiogäste und Anrufer
zu Wort, es geht um bosnische Flüchtlinge oder um Schulden.  Sendungen
wie diese finden sich auch im öffentlich-rechtlichen Radio,
unprätentiös und unaufgeregt.  Hier wird ansatzweise ein Anspruch
eingelöst, den das Radio von Anfang an mit sich führte -- die
Radio-Oase zu bieten, inmitten der aufgeregten, von Konkurrenz
bedrängten Berliner Radiolandschaft.  Und nicht nur weichgespülte
Musik.

Die gute Nachricht, das Evangelium, übersetzt Radio Paradiso bruchlos
in gute Laune, läßt den Hörer jedoch im Unklaren darüber, ob sie nicht
ebenso aufgesetzt und antrainiert ist wie die der ungebremst
fröhlichen Kommerzradios.  Wären nicht die Kurzandachten, das
Glockengeläut und die Schnipsel kirchlicher Nachrichten, dann würde
über weite Strecken nicht auffallen, wes' Geistes Kind dieser Sender
ist.  Die vielfältigen Produkte der evangelischen Rundfunkredaktionen
kommen vor, bleiben aber ebenso unauffällig wie auf anderen
Kommerzfunkfrequenzen -- was in der Logik dieses Radio-Genres liegt.

Eine "Servicewelle" für das Bedürfnis nach Sinn und Transzendenz
erkannte ein Beobachter in Radio Paradiso, dessen Titel auf den
unbedarften Zuhörer noch immer etwas albern wirkt.  Zutreffen mag
daran, daß von den transzendenten Dingen im nachmetaphysischen
Zeitalter öffentlich nur noch in Verdünnung oder in Anführungszeichen
die Rede sein kann.  Erbauung ist nicht radiotauglich, Gottvertrauen
nicht mitteilbar.  Es sei denn in der Form der Andacht oder Predigt,
vorgetragen vom Seelsorger, dem Inhaber dieser Handelsmarke.

Auf die klassichen kirchlichen Radioformate wie die Morgenandacht
eines als Kirchenmann auftretenden Pfarrers oder die
Gottesdienstübertragung als gemeindliche Galaveranstaltung hat Radio
Paradiso daher fast völlig verzichtet.  Eine "gottesdienstliche
Morgenfeier" am Sonntag soll nun erst der freikirchliche
Evangeliums-Rundfunk (ERF) aus Wetzlar zuliefern.  Der
einstündig-sonntägliche Gottesdienst zwischen zehn und elf bleibt
Sache der Öffentlich-Rechtlichen.

Demnach gäbe es keinen Grund für SFB-Chef Günther von Lojewski, über
die Zukunft der kirchlichen Sendungen aus seinem Hause nachzusinnen.
Radio Paradiso spielt hier in einer anderen Liga, das Formatradio
sprengende, sperrige Produkte kommen nicht vor.  Hatte jemand etwas
anderes erwartet?  Wenn Paradiso-Gründer Rainer Thun vom Zusammenspiel
"ewiger Wahrheiten und südlicher Leichtigkeit des Seins" schwärmte,
vom "Service für die Seele" sprach und erkennbar eher auf ein
professionelles Medienprodukt setzte denn auf ein Kirchenradio, dann
waren die Vorzeichen eindeutig.

Das Resultat ist kommerziell, ohne Umschweife.  Mit dem eher
wortkargen und musikalisch stromlinienförmigen Programm, das nun seit
Aschermittwoch versendet wird, könnte sich womöglich am Ende gar ein
wenig Geld einspielen lassen.  Das wird mit der Media Analyse im
kommenden Jahr entschieden.  Dann nämlich wird sich herausstellen, ob
die jüngst ermittelten, vielversprechenden "Hörer-gestern"-Zahlen
Bestand haben, die Radio Paradiso schon kurz nach dem Start immerhin
in der Nähe der quotenschwachen SFB-Welle B Zwei und des
Minderheitensenders Deutschlandradio plazierten.

"Wir leben in einer totalen Informationsgesellschaft, wer nicht
kommuniziert, geht unter."  So predigt es die Marketing-Fachfrau
Claudia Langer den Kirchen.  Das Radio mit dem Paradies im Namen zieht
daraus eine mögliche Konsequenz:  Es "schmeichelt der Seele" (Thun),
es bietet seinen Hörern zunächst etwas an, ein melodiöses Musikband,
und liefert dann im Handumdrehen christliche Inhalte nach, wenn auch
in so starker Verdünnung, daß sie keinen Anstoß erregen.

Wen spricht eine solche Mischung an?  Die Zielgruppenuntersuchungen
ergaben, daß die Kernzielgruppe als "gutsituiert, einflußreich,
selbstbewußt und im besten Sinne staatstragend" eingeschätzt werden
darf.  Multiplikatoren, Meinungsmacher, "sozial engagiert und --
kritisch".  Ist es überzogen, dieses Milieu vorrangig im Westen
Berlins zu vermuten?  Vielleicht erklärt sich aus solchen
Zuschreibungen die tiefsitzende Abneigung, auf die Radio Paradiso bei
Ost-Kirchenmenschen wie Jörg Hildebrandt trifft, deren evangelische
Sozialisation in Diaspora und Realsozialismus stattfand.

Radio Paradiso mag außerkirchlich auf breite Äther-Akzeptanz stoßen
und Hörer ansprechen, die sich eher vage an christlichen
Wertvorstellungen orientieren -- innerkirchlich muß es
notwendigerweise polarisieren.  An der "Nivellierung des Vielfachen
und Belanglosen" (Gerd Heinrich in epd/Kifu 67/96) wirkt es
zwangsweise selbst mit.  Aber ist es, obwohl kein kirchliches
Spartenprogramm, nicht dennoch das "Gegenteil von Mission" (Joachim
Schmidt in epd/Kifu 69/96)?  

Es steckt mitten im Dilemma zwischen einer gefälligen, viele
ansprechenden Form und den Inhalten, die sich darin fügen müssen und
dabei solange an Substanz einbüßen, bis sie dem "gutsituierten"
Bundesbürger noch zur Erbauung gereichen.  Angesichts dieser Klemme
ist Radio Paradiso so ganz schlecht nicht; auch über die
neugeschaffenen, qualifizierten Medienarbeitsplätze darf man sich
freuen; und vielleicht werden irgendwann auch die Werbekunden
glücklich, wie die HUK Coburg, selbst Paradiso-Gesellschafterin, deren
Erkennungssong nicht allzu selten über den Äther geht.


-- 
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