Medialist 16.97: Paradiesische Zustände Hgg. von Martin Recke Themen dieser Ausgabe: - ORB-Hörfunkdirektorin zur Kritik an SFB/ORB-Radioplänen - Portrait des kirchlichen Kommerzsenders Radio Paradiso SFB/ORB-Radioreform: ORB prangert "Diskreditierungen und Unwahrheiten" an -- Steer: SFB macht sich nicht vom ORB abhängig In ungewöhnlich scharfer Form hat ORB-Hörfunkdirektorin Hannelore Steer die Kritik aus der Berliner Senatskanzlei an der mit dem SFB verabredeten Zusammenarbeit im Hörfunk zurückgewiesen. Es befremde sehr, wie die im Grundgesetz festgeschriebene Staatsferne des Rundfunks in der Berliner Senatskanzlei interpretiert werde, meinte Steer am 21. März in einem Interview auf der ORB-Welle Radio Brandenburg. Es werde mit "Unwahrheiten und Diskreditierungen" Politik gemacht, so die Hörfunkchefin: "Einer Politik, die etwas auf sich hält, ist das nicht würdig." Ein in der vergangenen Woche bekanntgewordenes Papier der Senatskanzlei in Berlin hatte den Anfang März paraphierten Vertrag zwischen SFB und ORB heftig kritisiert, zugleich aber festgestellt, daß die geplante Kooperation rechtlich weder zu beanstanden noch zu verhindern sei (Medialist 15.97). SFB-Intendant Günther von Lojewski mache sich durch die geplante Kooperation schon deshalb nicht von Abstimmungen mit dem ORB abhängig, weil Federführung und Verantwortung der neuen Gemeinschaftswellen im Vertrag klar geregelt würden. Es sei auch nicht richtig, daß die in der Nachfolge von SFB 3 geplante Kulturwelle "Radio Drei" nicht in Brandenburg zu hören sein würde. Die Vorbereitungen für vom ORB beantragte Stützfrequenzen in Frankfurt/Oder und Cottbus seien im Gange. Hannelore Steer wies darauf hin, daß die Kosten dafür der ORB trage. Es zeuge von "Ignoranz", so die ORB-Hörfunkdirektorin, die ORB-Kulturwelle Radio Brandenburg als "gescheitert" und "wenig profiliert" zu bezeichnen. Der jüngsten Media Analyse (MA) zufolge zähle die Welle neben den Kulturradios von WDR, BR und SWF bundesweit zu den erfolgreichsten Beispielen ihres Genres. Es sei daher "absurd", Qualitätseinbußen für das geplante "Radio Drei" dadurch zu befürchten, daß ORB-Mitarbeiter zum SFB wechselten. Auch ein Personalabbau bei SFB 3 sei nicht zu erwarten. "Eine solche Diskreditierung" ihrer Mitarbeiter nannte Steer "unangemessen und unwürdig". (mr) --------------------- Kundenfreundlich -- Ein Radio voller Tankstellen-Metaphorik / Von Martin Recke Die Kirche ist einfach kundenfeindlich. So überschrieb das Hamburger Abendblatt jüngst ein Interview mit Claudia Langer, einer Pfarrerstochter und hauptberuflichen Chefin der Werbeagentur "...start advertising". Die Marke "Kirche" rufe bei ihr kein inneres Bild mehr wach, bekannte Langer da. Besonders störe sie, daß die Kirche sich "nicht die Mühe macht, den Leuten zu begegnen". Dies jedenfalls macht Radio Paradiso anders. Wie der heute längst zum Kassierer reduzierte Tankwart von einst steht das Radio da, die Zapfpistole in der Hand, und fragt kundenfreundlich den Hörer: "Volltanken?" Irgendwie ist den Radiomachern die in kirchlicher Basisarbeit verbreitete Tankstellen-Metaphorik ins corporate design gerutscht: Ihr Produkt firmiert als "Radio zum Auftanken", und die sekundenkurze Besinnung vor jeder vollen Stunde heißt stabgereimt "Gedanken zum Auftanken". Wer die mechanistische Wortwahl verkraftet, findet dort Texte von sehr unterschiedlicher Qualität. Das Spektrum reicht vom griffigen Bibelwort bis zur abgedroschensten Kurzgeschichte, mit der einfallslose Pfarrleute schon vor Jahrzehnten von der Kanzel langweilten; die griechische Philosophie kommt ebenso zu Wort wie Literatur und Lyrik, von heute wie von gestern, oder die Chadissim, deren Platz im christlich-religiösen Geschichtenschatz wohl sicher bleibt. Und dann läuten volltönend die Glocken, der samtsoftige Chor singt im bestbekannten Kommerzfunk-Stil die akustische Senderkennung. "Achtundneunzig-zwo, Radio Paradiso." Wer dann, der vollen Stunde wegen, auf Nachrichten gehofft hatte, wird enttäuscht: Wirkliche Nachrichten kann sich der Kirchenfunk modernsten Zuschnitts bis dato nicht leisten. Die Neuigkeiten kommen stattdessen jeweils eine halbe Stunde später daher, putzig als "Was gibt's Neues?" betitelt. Das Musikformat hat Radio Paradiso fast bruchlos vom Vorgänger auf der Frequenz übernommen, der "Soft Hit Radio" hieß wie sein Format. Eine "Mogelpackung" ist dieses Radio für Lutz Borgmann, den Chefredakteur des Sonntagsblatts "Die Kirche". Borgmann, nebenbei Vorsitzender des Rundfunkrats beim brandenburgischen Sender ORB, wetterte von Anbeginn gegen die Radiopläne des Kieler Presseverbands-Direktors Rainer Thun. Die aktuelle Kritik jedoch geht ins Leere. Denn der Funkpfarrer hatte nichts anderes versprochen als ein kirchliches Kommerzradio. Und diesem Versprechen wird Radio Paradiso allemal gerecht. Auf den großen Sendeflächen des Tages bleibt die Station kommerzfunktypisch wortkarg. Der Soft-Pop plätschert sanft dahin, und die auffällige Häufung sakraler Topoi im Musikformat bemerkt nur, wer danach sucht: "...knockin' on heaven's door", "...when Jesus walks" -- es überrascht, wieviel christliches Klischee doch in der Mainstream-Musik steckt. Sakro-Pop hingegen kommt nicht vor, bekam er doch allzu ungünstige Werte in den vor Sendestart abgehaltenen Tests. Und selbst Gospel oder Spiritual wird nur abends am Wochenende gespielt, in eigenen Sendungen. Bedauerlich, aber ebenfalls ein Tribut an die störungsfreie Durchhörbarkeit, die der gnadenlose Berliner Hörfunkmarkt erzwingt. Zum Ausgleich verschont das Radio seine Hörer auch mit den obligatorischen Gewinnspielen, mit allzu albern-aufgedrehten Moderatoren, die sonst zombiehaft allenthalben über die Wellen geistern. Worthaltig wird die Welle nach 18 Uhr, in der call-in-Sendung "Paradis-Ohr". In den Musikpausen kommen dann Studiogäste und Anrufer zu Wort, es geht um bosnische Flüchtlinge oder um Schulden. Sendungen wie diese finden sich auch im öffentlich-rechtlichen Radio, unprätentiös und unaufgeregt. Hier wird ansatzweise ein Anspruch eingelöst, den das Radio von Anfang an mit sich führte -- die Radio-Oase zu bieten, inmitten der aufgeregten, von Konkurrenz bedrängten Berliner Radiolandschaft. Und nicht nur weichgespülte Musik. Die gute Nachricht, das Evangelium, übersetzt Radio Paradiso bruchlos in gute Laune, läßt den Hörer jedoch im Unklaren darüber, ob sie nicht ebenso aufgesetzt und antrainiert ist wie die der ungebremst fröhlichen Kommerzradios. Wären nicht die Kurzandachten, das Glockengeläut und die Schnipsel kirchlicher Nachrichten, dann würde über weite Strecken nicht auffallen, wes' Geistes Kind dieser Sender ist. Die vielfältigen Produkte der evangelischen Rundfunkredaktionen kommen vor, bleiben aber ebenso unauffällig wie auf anderen Kommerzfunkfrequenzen -- was in der Logik dieses Radio-Genres liegt. Eine "Servicewelle" für das Bedürfnis nach Sinn und Transzendenz erkannte ein Beobachter in Radio Paradiso, dessen Titel auf den unbedarften Zuhörer noch immer etwas albern wirkt. Zutreffen mag daran, daß von den transzendenten Dingen im nachmetaphysischen Zeitalter öffentlich nur noch in Verdünnung oder in Anführungszeichen die Rede sein kann. Erbauung ist nicht radiotauglich, Gottvertrauen nicht mitteilbar. Es sei denn in der Form der Andacht oder Predigt, vorgetragen vom Seelsorger, dem Inhaber dieser Handelsmarke. Auf die klassichen kirchlichen Radioformate wie die Morgenandacht eines als Kirchenmann auftretenden Pfarrers oder die Gottesdienstübertragung als gemeindliche Galaveranstaltung hat Radio Paradiso daher fast völlig verzichtet. Eine "gottesdienstliche Morgenfeier" am Sonntag soll nun erst der freikirchliche Evangeliums-Rundfunk (ERF) aus Wetzlar zuliefern. Der einstündig-sonntägliche Gottesdienst zwischen zehn und elf bleibt Sache der Öffentlich-Rechtlichen. Demnach gäbe es keinen Grund für SFB-Chef Günther von Lojewski, über die Zukunft der kirchlichen Sendungen aus seinem Hause nachzusinnen. Radio Paradiso spielt hier in einer anderen Liga, das Formatradio sprengende, sperrige Produkte kommen nicht vor. Hatte jemand etwas anderes erwartet? Wenn Paradiso-Gründer Rainer Thun vom Zusammenspiel "ewiger Wahrheiten und südlicher Leichtigkeit des Seins" schwärmte, vom "Service für die Seele" sprach und erkennbar eher auf ein professionelles Medienprodukt setzte denn auf ein Kirchenradio, dann waren die Vorzeichen eindeutig. Das Resultat ist kommerziell, ohne Umschweife. Mit dem eher wortkargen und musikalisch stromlinienförmigen Programm, das nun seit Aschermittwoch versendet wird, könnte sich womöglich am Ende gar ein wenig Geld einspielen lassen. Das wird mit der Media Analyse im kommenden Jahr entschieden. Dann nämlich wird sich herausstellen, ob die jüngst ermittelten, vielversprechenden "Hörer-gestern"-Zahlen Bestand haben, die Radio Paradiso schon kurz nach dem Start immerhin in der Nähe der quotenschwachen SFB-Welle B Zwei und des Minderheitensenders Deutschlandradio plazierten. "Wir leben in einer totalen Informationsgesellschaft, wer nicht kommuniziert, geht unter." So predigt es die Marketing-Fachfrau Claudia Langer den Kirchen. Das Radio mit dem Paradies im Namen zieht daraus eine mögliche Konsequenz: Es "schmeichelt der Seele" (Thun), es bietet seinen Hörern zunächst etwas an, ein melodiöses Musikband, und liefert dann im Handumdrehen christliche Inhalte nach, wenn auch in so starker Verdünnung, daß sie keinen Anstoß erregen. Wen spricht eine solche Mischung an? Die Zielgruppenuntersuchungen ergaben, daß die Kernzielgruppe als "gutsituiert, einflußreich, selbstbewußt und im besten Sinne staatstragend" eingeschätzt werden darf. Multiplikatoren, Meinungsmacher, "sozial engagiert und -- kritisch". Ist es überzogen, dieses Milieu vorrangig im Westen Berlins zu vermuten? Vielleicht erklärt sich aus solchen Zuschreibungen die tiefsitzende Abneigung, auf die Radio Paradiso bei Ost-Kirchenmenschen wie Jörg Hildebrandt trifft, deren evangelische Sozialisation in Diaspora und Realsozialismus stattfand. Radio Paradiso mag außerkirchlich auf breite Äther-Akzeptanz stoßen und Hörer ansprechen, die sich eher vage an christlichen Wertvorstellungen orientieren -- innerkirchlich muß es notwendigerweise polarisieren. An der "Nivellierung des Vielfachen und Belanglosen" (Gerd Heinrich in epd/Kifu 67/96) wirkt es zwangsweise selbst mit. Aber ist es, obwohl kein kirchliches Spartenprogramm, nicht dennoch das "Gegenteil von Mission" (Joachim Schmidt in epd/Kifu 69/96)? Es steckt mitten im Dilemma zwischen einer gefälligen, viele ansprechenden Form und den Inhalten, die sich darin fügen müssen und dabei solange an Substanz einbüßen, bis sie dem "gutsituierten" Bundesbürger noch zur Erbauung gereichen. Angesichts dieser Klemme ist Radio Paradiso so ganz schlecht nicht; auch über die neugeschaffenen, qualifizierten Medienarbeitsplätze darf man sich freuen; und vielleicht werden irgendwann auch die Werbekunden glücklich, wie die HUK Coburg, selbst Paradiso-Gesellschafterin, deren Erkennungssong nicht allzu selten über den Äther geht. -- The Medialist distributes various news about media topics. It's in German. Die Medienliste verbreitet diverse Medienmeldungen mit dem Schwerpunkt Berlin. Sie erscheint in den Newsgroups de.soc.medien, bln.medien und prenzlnet.medien sowie auf http://userpage.fu-berlin.de/~mr94/medialist/. Die Liste ist moderiert. Beitraege nimmt Martin Recke <mr94@prenzlnet.in-berlin.de> entgegen. Um die Medienliste per Mail zu beziehen, genuegt eine Mail an <medialist-request@prenzlnet.in-berlin.de> mit SUBSCRIBE im Body. HELP im Body schickt einen Hilfstext. Kommerzielle Weiterverwertung der Medienmeldungen ist generell nicht gestattet. 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