Material und Methode

Quelle: CD-ROM Historische Demographie I, 1995, Fig. 3.
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Grundlegend in der Historischen Demographie: die Familienrekonstitutions-Methode


Die kleinsten Einheiten einer jeden historisch-demographischen Datenbank sind in der Regel die Familien. Mit Hilfe des Computers wird das gesamte, je nach Region und Ort meist zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert einsetzende Kirchenbuchmaterial über den interessierenden Zeitraum familienweise reorganisiert. Üblicherweise geht man vom Eintrag des Elternpaares im Heiratsregister aus und sucht anschliessend in den Tauf- und Beerdigungsbüchern nach den Einträgen für sämtliche Familienmitglieder.

Jede Darstellung einer Familienrekonstitution besteht aus zwei Teilen. Im oberen Teil befindet sich im Anschluss an eine Kopfleiste die sogenannte "Familienübersicht" (englisch: "Family display"). Im unteren Teil folgt die "Familienereignistafel" ("Family event table").

In der "Familienübersicht" legt der Computer als erstes eine Zeitachse an. Sie umfasst so viele Jahrzehnte, dass die Lebenslaufslinien aller Familienmitglieder ab dem frühesten Geburtseintrag bis zum spätesten Todestag Platz finden. Jedes Mitglied erhält für sich eine Linie eingezeichnet. Der Reihe nach sind es Vater, Mutter, Kind 1, Kind 2, Kind 3 usw.

Die "Familienereignistafel" ordnet jedem Familienmitglied eine laufende Nummer zu. Es finden sich hier sodann die exakten Geburts- und Sterbedaten mitsamt den jeweiligen Ortshinweisen vermerkt. Ausserdem trägt der Computer die Ergebnisse erster Berechnungen ein, so die Heiratsalter von Mann und Frau, das Alter der Mutter bei jeder Geburt, den Abstand zwischen Heirat und erster Geburt sowie zwischen allen folgenden Geburten.

Zur Erleichterung genealogischer Aneinanderreihung sind ferner die Heiratsdaten der Kinder, ihre Heiratsorte sowie die Kennziffern der neuen Familien angezeigt. Per Computer lassen sich die Generationen leicht miteinander verknüpfen.

Selbst beim Vorliegen auch nur einer einzigen Familienrekonstitution können sozialgeschichtlich relevante Aussagen gemacht werden. Das hier wiedergegebene Beispiel betrifft die Familie Nummer 03495 aus der nordhessischen Schwalm. Als Heirats-, Geburts- und Sterbeorte sind Wasenberg und Ransbach eingetragen. Der Bräutigam wurde am 24. Oktober 1653 in Ransbach geboren, die Braut am 11. Januar 1656 in Wasenberg. Ihre Heirat fand am 26. März 1680 in Wasenberg statt, also wie üblich am Geburtsort der Frau. Er war damals 26, sie 24 Jahre alt.

Beim Betrachten der beiden obersten Lebenslaufslinien fällt in der "Familienübersicht" auf, dass die Frau ihren Mann um ein gutes Jahrzehnt überlebte. Er starb am 8. November 1709 im Alter von 56 Jahren an "Abzehrung", sie am 13. April 1721 mit 65 nach langjähriger Witwenschaft "vor Alter". Beerdigt wurden beide an ihren jeweiligen Geburtsorten.

Die wiederholten Ortshinweise erlauben ein genaues Studium der damaligen sogenannten Mikromobilität zwecks Partner- oder Arbeitssuche. Diese seinerzeitige Mobilität hat zur Folge, dass sich die Historische Demographie selten mit der Analyse von nur einer kirchengemeinde benügen kann. Zehn, zwölf benachbarte Pfarreien bildeten normalierweise einen Heiratsmarkt, innerhalb dessen man - je nach Region und Zeit - 80% bis 90% der Vorfahren von der Geburt über die Heirat bis zum Tod verfolgen kann.

Das Ehepaar hatte sieben Kinder. Davon überlebte allerdings, wie damals "üblich", nur die Hälfte. Das erste Kind war am 22. April 1680 zur Welt gekommen, also nicht einmal einen Monat nach der Heirat der hochschwangeren Braut. Es verstarb indes bereits mit sieben Tagen am 29. April. Sechs weitere Geburten folgten in unterschiedlichen Abständen. Die letzten beiden Intervalle betrugen 42 und 49 Monate. Bei der sieben Niederkunft hatte die Mutter ein Alter von 39 Jahren erreicht.

Charakteristisch für die damalige Zeit ist nicht allein, dass die Hälfte aller Geborenen noch vor Erreichen des Erwachsenenalters verstarb. Charakteristisch ist vielmehr auch die Zahl der überlebenden Kinder. Angesichts einers weiblichen Heiratsalters von normalerweise etwa Mitte zwanzig und eines durchschnittlichen Alters bei der letzten Geburten von gegen vierzig blieb bei einem Geburtenabstand von zwei bis zweieinhalb Jahren kein zeitlicher Spielraum für mehr als sechs bis sieben Schwangerschaften (vgl. Desjardins et al. 1994). Entsprechend moderat war in früheren Jahrhunderten bei uns die Bebölkerungszunahme. Zu einer Bevölkerungsexplosion konnte es bei durchschnittlich etwa drei überlebenden Kindern por Familie nicht kommen.

Auch der Grund, weshalb das Heiratsalter in Europa damals so erstaunlich hoch war - mehrere Jahre nach der Pubertät -, kann dieser Familienrekonstitution entnommen werden. Die Erlaubnis zu heiraten erhielt in jenen Tagen nur, wer nachweislich eine Familie zu ernähren im Stande war. In einer bäuerlichen Gesellschaft wie derjenigen der Schwalm hiess das aber, abzuwarten, bis der Hof durch den Tod des Vaters für die nächste Generation frei geworden war.

Im vorliegenden Fall starb der Altbauer am 8. November 1709. Nach einer Schamfrist von gerade zwei Monaten fand die Heirat des wartenden ältesten Sohnes am 14. Januar 1710 statt. Da er am 2. Mai 1683 zur Welt gekommen war, wies er selbst bereits ein Alter von 27 Jahren auf. Es hätten auch noch mehr sein können, wenn der Vater nicht schon mit 56 gestorben wäre.

Dass die Eltern gar nicht mehr als die "üblichen" sechs, sieben Geburten anstrebten, können wir daraus ersehen, dass sie sich offenbar um eine Dehnung der späten Intervalle bemühten. 42 beziehungsweise 49 Monate sind mehr als drei, ja mehr als vier Jahre Abstand. Selbstverständlich können hierfür mehrere Gründe in Frage kommen. Das "Feuer der Liebe" mochte nach den vielen Ehejahren nicht mehr wie zu Beginn gelodert haben. Möglicherweise hatten Schwangerschaft in Spontanaborten geendet? Vielleicht war es im Zusammenhang mit früheren Geburten zu gynäkologischen Schäden gekommen?

Wenn wir aber unterstellen, dass es sich bei den auffälligen Geburtenspreizungen um das Resultat familienplanerischer Absichten handelte, müssen wir auch nachweisen können, dass zu jener Zeit entsprechendes Wissen vorhanden waren. Tatsächlich sind dem Historiker diesbezügliche Quellen bekannt.


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