Durchbruch der Geburtenbeschränkung gegen Ende des 19. Jahrhunderts


Die vier Stapel von links nach rechts:

  1. Durchschnittliche Geburtenabstände: höchstens 18 Monate
  2. Durchschnittliche Geburtenabstände: 19 - 30 Monate
  3. Durchschnittliche Geburtenabstände: 31 - 48 Monate
  4. Durchschnittliche Geburtenabstände: mehr als 48 Monate



Quelle: CD-ROM Historische Demographie I, 1995, Fig. 11.
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Durchbruch der Geburtenbeschränkung in der Stadt Genf (links),
in einer Region östlich von Paris (Mitte)
und im westdeutschen Dorf Höringhausen (rechts) -
17. bis 19. Jahrhundert


Antikonzeptionelles Wissen war zwar überall in Europa nachweislich schon im 16. Jahrhundert vorhanden (vgl. nochmals Lonitzers Kräuterbuch von 1557). Von einer Mehrheit der Bevölkerung jedoch wirklich angewandt wurden diese Kenntnisse in den verschiedenen Regionen indes zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten.

Es geht hier nicht um die Frage, ob und wieviele Ehepaare in der Oberschicht schon immer eine gewisse Geburtenbeschränkung betrieben, um die Zahl erbberechtigter Nachkommen möglichst klein und damit ihren Reichtum zusammenzuhalten. Gefragt wird nach der Motivation der Bevölkerungsmehrheit.

Die Abbildung konzentriert sich auf drei Standorte in Mittel- und Westeuropa:

1. die Stadt Genf
2. eine Region bestehend aus mehreren Gemeinden im Osten von Paris
3. das Dorf Höringhausen im Waldeckischen, etwa 35 km westlich von Kassel gelegen.
Die vier beziehungsweise fünf Kästchen unterhalb der jeweiligen Ortsbezeichnungen betreffen stets sämtliche Familien im angegebenen Zeitraum. Gemeinsam bilden sie in jeder Periode 100 %.

Jedes Kästchen enthält vier Stapel. Von links nach rechts zeigen sie jene Familien in Prozent aller Familien des betreffenden Zeitraums, deren durchschnittliche Geburtenintervalle

1. höchstens 18 Monate
2. 19 - 30 Monate
3. 31 - 48 Monate
4. mehr als 48 Monate betrugen.
Die hier stark vereinfacht wiedergegebene Methode wird kritisch ausführlich behandelt bei Pfister 1985. Zudem tragen Desjardins et al. 1994 mit neueren Ergebnisse aus Frankreich und Kanada bei.

Bevor man sich an die Interpretation der Abbildung macht, sollte man zwei Dinge wissen. Zum einen gab es schon immer etwa zehn Prozent Familien, in denen die Geburtenintervalle mehr als vier Jahre betrugen. Hierunter fallen die erwähnten Oberschichten-Familien ebenso wie Ehepaare mit Fertilitätsproblemen. Bisweilen lag die Ursache auch an sehr grossen Altersunterschieden zwischen den Partnern.

Zum anderen gelten in der Historischen Demographie Geburtenintervalle bis zu dreissig Monaten als biologisch natürlich. Sie setzen sich zusammen aus der vorübergehenden Unfruchtbarkeit der Frau nach einer Geburt (sogenannte Amenorrhöe post partum), aus der Laktationsamenorrhöe (relative Unfruchtbarkeit während des Stillens), aus der möglicherweise verlorenen Zeit durch Spontanabort(e) und aus der neuenmonatigen neuen Schwangerschaft.

Betrachtet man die Kästchen an den drei Örtlichkeiten von oben nach unten, stellt man überall eine nach dem gleichen Schema ablaufende Entwicklung fest. Im jeweils obersten Kästchen sind die Familien in den beiden Stapeln links von der Mitte, also jene mit Geburtenabständen bis zu dreissig Monaten, stets in der Mehrzahl. Ihre beiden Stapel betragen zusammen immer über 50 %. Wir haben es hier folglich mit Bevölkerungen zu tun, die in ihrer überwiegenden Mehrheit keine Geburtenbeschränkung betrieben.

Je weiter die Zeit in den Periodenkästchen nach unten voranschreitet, umso kleiner werden die Stapel links von der Mitte und umso grösser demzufolge die beiden rechten. Was wir hier wie in einem Filmablauf vor uns haben, ist somit der Wandel einer Bevölkerung von überwiegend nicht empfängnisverhütenden Familien zu einer mehrheitlich geburtenbeschränkenden Bevölkerung.

Während jedoch die Entwicklungen in Genf, im Pariser Osten und in Höringhausen prinzipiell überall gleich verlaufen, ist deren Beginn sowie die Ablaufgeschwindigkeit unterschiedlich. In Genf setzt der Wandel bereits um die Mitte des 17. Jahrhunderts ein. Er dauert bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein. In der Region östlich von Paris hebt er hundert Jahre später an, ist jedoch nach acht Jahrzehnten vollzogen. In Höringhausen schliesslich haben wir noch Mitte des 19. Jahrhunderts das alte Muster vor uns. Als der Wandel dort dann allerdings begann, ging er sehr rasch vor sich. Der Zeitraum einer einzigen Generation - 1870-1899 - genügte hierfür. Dabei waren geburtenverhütende Kenntnisse an sich auch in Deutschland, wie wir in Lonitzers Frankfurter Kräuterbuch von 1557 feststellten, schon im 16. Jahrhundert durchaus vorhanden.

Was führte zur Motivation einer Genfer Mehrheit schon im 17., was zu derjenigen vieler Franzosen Ende des 18. und was schliesslich zu derjenigen Deutscher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts? Hier ist historische Motivationsforschung gefragt.

Genf kennen wir alle als die Stadt Calvins. Wenn wir seine Schriften lesen, werden wir finden, dass dieser Schweizer Reformator als erster den Eltern eine gewisse Mitverantwortung am Leben und Überleben ihrer Nachkommen einschärfte. Hier galt nicht länger die alte Redewendung: "Der Herr hat es [das Kind] gegeben, der Herr hat es genommen; der Name des Herrn sei gepriesen!" Den in die Pflicht genommenen Eltern fiel es verständlicherweise leichter, die angemahnte Verantwortung für nur zwei oder drei Kinder - mit ausgeprägten Altersabständen - zu übernehmen, als sie für sechs oder sieben rasch aufeinander Geborene zu tragen.

Was die (katholischen) Gemeinden im Osten von Paris betrifft, so erfolgte der Umschwung bei genauem Hinsehen zwischen der 1789 auslaufenden und der 1790 beginnenden Periode, das heisst im Einklang mit der Französischen Revolution. Französische Historiker-Demographen weisen seit langem darauf hin, dass die Französische Revolution keineswegs nur eine politische gewesen war, sondern mentalitätsmässig zu einem Modernisierungsschub in weitesten Bevölkerungskreisen führte. Eine kleinere Familie aber war "moderner" als eine traditionell grössere. Frankreich war denn auch das erste Land Europas mit einer auffallend niedrigen Geburtenrate schon im 19. Jahrhundert.

Die Interpretation der ein weiteres Jahrhundert später erfolgenden Motivation in Deutschland geschieht ausführlich anhand der übrigen hier wiedergegebenen Graphiken. Nur so viel sei vorweggenommen: der rasche Umschwung damals hing aufs engste mit der rapiden Urbanisierung und Industrialisierung zusammen. Immer ausgedehntere Agrarzonen gerieten in den Markteinzugsbereich explosionsartig wachsender Städte. Die hierdurch ausgelöste Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion - immer mehr Nahrungsmittel für immer mehr Städter - schlug arbeitsmässig in erster Linie bei den bäuerlich tätigen Frauen und Müttern zu Buche. Nicht überraschend kam es damals zu einem Boom hinsichtlich der dortigen Säuglings- und Müttersterblichkeit. Die betroffenen Frauen und Mütter wehrten sich; sie wollten sich und ihre Kleinen nicht auf Dauer einer derartigen Übersterblichkeit aussetzen. Von einer Generation zur nächsten war nun auch hier die Motivation vorhanden. Die Zahl der Schwangerschaften wurde drastisch eingeschränkt.


An neueren Überblickswerken zur Kontrazeption vgl. Dienel 1995, Kuhl 1996, Schneider 1996 und Teichmann 1996, zur Fruchtbarkeit in traditionellen agraren und nicht-agraren Gesellschaften ferner Bentley et al. 1993 und zum Thema "Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918" Dienel 1995.


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