Das Thema: Sport & Medizin

Hungern auf Biegen und Brechen?



Berühren des Oberschenkels während einer Rumpfrückbeuge gehört zum Standardrepertoire der rhythmischen Sportgymnastik

Welcher Fernsehzuschauer ist nicht fasziniert, wenn er bei den Olympischen Spielen die grazilen Küren der Sportgymnastinnen verfolgt. Bei musikalischer Untermalung und lediglich mit einem Ball oder Reifen in der Hand vollführen die Teenager akrobatisch e Wunderwerke. Dem kritischen Beobachter fällt aber auch die außerordentliche Magerkeit der Mädchen ins Auge, die sich bei hohen Sprüngen und Pirouetten bedenklich verbiegen und Spreizwinkel bis zu 240 Grad - 180 Grad entsprechen dem Spagat - erreichen.

Ein Eindruck, der nicht täuscht: Im letzten Sommer starb die amerikanische Turnerin Christy Henrich an den Folgen von Magersucht. Vorwürfe gegen das Training in dieser Disziplin wurden laut. Der Deutsche Turner-Bund gab eine Studie zu "Belastungen und Risiken im Kunstturnen" in Auftrag, war mit der Verbreitung der Ergebnisse aber zurückhaltend. Katja Tamberg (28), Medizinerin mit 3. Staatsexamen, hat sich in ihrer Doktorarbeit* dem Thema: "Pubertätsverlauf und Zyklusgeschehen bei Sportgymnastinnen des Hochleistungsbereiches" zugewandt. Die Doktorandin, die selbst zur "Szene" gehört - sie war als Jugendliche Hochleistungsgymnastin und ist heute Trainerin dieses Sports am Landesleistungszentrum Berlin -, legt damit erstmals Fakten zum "Training und gesun dheitlichen Zustand fast aller deutschen Spitzengymnastinnen" vor.

In der Praxis gelten bislang orthopädische Probleme als Hauptursache für eine gesundheitlich bedingte Aufgabe des Sports. Gynäkologische oder internistische Probleme werden selten erkannt, auch wenn auf der Hand liegt, daß bei Sportgymnastinnen aus min destens drei Gründen von einer unzureichenden Ausschüttung der Sexualhormone auszugehen und damit ein gesundheitliches Risiko vorprogrammiert ist. Zum einen erreichen die Mädchen bereits mehrere Jahre vor der Pubertät - etwa zwischen 9 und 11 Jahren - die Stufe der höchsten Trainingsbelastung. Zum anderen ist ihr Training stark ausdauerbetont. Außerdem sind sie stark untergewichtig und halten 'ihr Gewicht' entweder durch Veranlagung oder durch Reduktionskost. Das Untergewicht liegt bei den 11-14jährigen z wischen 18 und 20% und nimmt erst mit 15 Jahren langsam ab.

Katja Tamberg legte für ihre Untersuchungen an 42 Spitzensportlerinnen zwischen 14 und 19 Jahren zwei Kontrollgruppen fest: 12 Freizeitgymnastinnen und 32 untergewichtige Nichtsportlerinnen. Im Vergleich dieser Gruppen konnte sie nachweisen, daß die Me nstruation bei den Leistungsgymnastinnen (14,8 Jahre) signifikant später einsetzte als bei den Freizeitgymnastinnen (12,8 Jahre) und den Nichtsportlerinnen (13,4 Jahre). Zyklusstörungen kamen bei den Leistungssportlerinnen (80%) mehr als doppelt so oft wi e bei den Freizeitsportlerinnen (35%) und mehr als fünfmal so häufig wie bei den Nichtsportlerinnen (15%) vor. Als Hauptursachen für den gegenüber der Normalbevölkerung um drei Jahre verspätet einsetzenden pubertären Wachstumsschub und die Zyklusstörungen können "die körperliche Belastung durch das Training im Zusammenhang mit einer in der Kindheit zu vermutenden und im Jugendalter sicher bestehenden kalorischen Unterversorgung" gelten.

Wenn sich die Pubertät verzögert, kann das Folgen für das Knochenwachstum und die Knochendichte haben, ein Zusammenhang, der für Langstreckenläuferinnen und Ballettänzerinnen nachgewiesen ist. Seit einigen Jahren gehen Mediziner sogar davon aus, daß se lbst bei ausreichender Calciumzufuhr und sportlicher Betätigung, die normalerweise zu verstärkter Knochenmineralisierung führen sollten, in der Pubertät kein geregelter Knochenaufbbau gewährleistet ist, wenn der Östrogenspiegel zu niedrig ist. Die empfohl ene Mindestzufuhr von Calcium liegt im Alter zwischen 13 und 17 Jahren bei 1000 bis 1200 mg täglich. Keine einzige der untersuchten Leistungssportlerinnen deckte ihren Calciumbedarf auch nur annähernd. Bei drei Mädchen lag die Calciumzufuhr sogar bei unte r 50% des Mindestwertes der entsprechenden Altersgruppe.

Zu ihrem Eßverhalten äußerten sich nur sechs der Spitzensportlerinnen. Und auch das nur zögernd unter der wiederholten Versicherung, keine Angaben an Trainer oder Eltern weiterzuleiten. Katja Tambergs Ergebnisse weisen eindeutig in die Grauzone dieser Sportart, auf Unterernährung und Eßstörungen. Zitate der Betroffenen sind rar. Die 16jährige Kirsten Lossin sagte im ARD-Magazin Monitor 1994: "Der Tag des Wiegens war immer der Angsttag. Am Tag vorher sind wir in die Sauna gegangen, teilweise mit Schwitz anzügen, und haben nichts mehr getrunken und gegessen." Auch Katja Tamberg hat das große Schweigen seitens der Trainer und Betreuer, aber auch seitens der Leistungsturnerinnen nicht gebrochen, doch sie hat Fakten geschaffen, die zur Besorgnis mehr als ein en Anlaß geben.

Felicitas Wlodyga

* Betreuer: Prof. Lübbert aus der Abteilung für gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin


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