Psychiatrische Klinik und Poliklinik

Schon Hans Fallada kam hier zur Kur


Aus der "Privat-Irrenanstalt" im vornehmen Berliner Villenviertel von 1887 gingen 1910 die "Kuranstalten Westend" hervor. Kuren zur Alkoholentwöhnung waren die Spezialität dieser Nervenklinik. Auch Hans Fallada kam hier zur Kur. Er hielt in seinem Roman "Der Trinker" das "Innenleben" dieses Hauses fest. 1952 wurden die Kuranstalten von der Freien Universität übernommen und zur Psychiatrischen Klinik und Poliklinik umgewidmet. Die Spezialisi erung auf Suchtkrankheiten blieb erhalten. Heute betreibt die FU-Klinik mit 600 Patienten die größte Alkohol-Ambulanz der Stadt. Und kann sie auch weiter betreiben, denn die drohende Schließung der Psychiatrischen Klinik (siehe Klinikumschau Januar 1997) konnte abgewendet werden. Die Teilfortschreibung des Krankenhausplans garantiert den Fortbestand der Klinik.

Die Einführung der Psychopharmakotherapie im Jahre 1952 veränderte das Bild der Psychiatrie elementar und rief die neurowissenschaftliche Grundlagenforschung ins Leben. Psychisch kranke Menschen mußten nicht mehr ausschließlich in "Anstalten" verwahrt, sondern konnten ambulant versorgt und damit befähigt werden, ihren Platz im Leben wieder einzunehmen. "Wir sprechen dann in der Psychiatrie allerdings nicht von Heilung, sondern sagen: Der Mensch ist wieder sympt omfrei", erläutert der Direktor der Einrichtung, Prof. Hanfried Helmchen. Der Einsatz von Arzneimitteln kann dabei die bewußte Arbeit des Patienten an seiner Störung nicht ersetzen. Im Angebot der FU-Nervenklinik stehen daher auch ver schiedene Formen der Psychotherapie - darunter tiefenpsychologische Verfahren, sowie die Verhaltens-, Kunst- und Beschäftigungstherapie.

Helmchen gibt Einblick in die drei abteilungsübergreifenden Forschungs-Schwerpunkte der FU-Klinik: Therapieforschung, Suchtforschung und Demenzforschung. "In der Therapieforschung arbeiten wir an der Beurteilung und Verbesserung bestehender B ehandlungsstrategien, sowohl im Arzneimittelsektor als auch im Bereich der Psychotherapie. Als Universitätseinrichtung haben wir den Auftrag, Standards setzen."

Ein Beispiel: Patienten mit schweren Depressionen, Manien und Schizophrenien werden ambulant behandelt. Dazu kommen einige Patienten schon seit dreißig Jahren in die 1967 gegründete Lithium-Katamnese. Sie erhalten dort Medikamente zur Lang zeit- bzw. lebenslangen Rückfallprophylaxe. "Diese Krankheiten", erklärt Helmchen, "verlaufen episodisch. Chronisch ist dabei die Wiederkehr dieser Episoden". Weil bei Pharmaka wie dem Lithium noch keine Erfahrungen mit der l ebenslangen Anwendung vorliegen, dient die Krankenversorgung in den Katamnesen auch der wissenschaftlichen Beobachtung. Daß etwa bei Lithium-Patienten auch bei langfristiger Anwendung kein Suizid, aber auch keine Nierenschädigung befürchte t werden muß, ist das Ergebnis einer Gemeinschaftsstudie mit Universitätskliniken in der Schweiz, Kanada und Österreich.

Gegenstand der Therapieforschung an der Psychiatrischen Klinik ist auch die sozialpsychiatrische Versorgung. Dazu gehört die Erfolgsbewertung der gesellschaftlichen Wiedereingliederung psychisch Kranker ebenso wie die Entwicklung einer Qualitä ;tssicherung in multiprofessionellen Betreuungseinrichtungen. Ein besonderer Schwerpunkt ist die Untersuchung posttraumatischer psychischer Störungen und ihrer Behandlungsmöglichkeiten, z.B. bei den Opfern politischer Verfolgung und Haft in der DDR.

Im Arbeitsschwerpunkt Suchtforschung geht die Klinik auf die "Neurobiologie der Abhängigkeitserkrankungen" ein. Nach neuesten Erkenntnissen sind bei jeder Art von Sucht auch körpereigene Substanzen im Spiel. Diese sind haupt- oder zumindest mitverantwortlich für das Abhängigwerden und das Abhängigbleiben. Bisherige Ergebnisse: Bei Alkoholkranken und Opiatabhängigen fanden die Forscher eine vermehrte Bildung von Produkten des Hirnstoffwechsels, z.B. der "Kon densationsproduke", die aus Neurotransmittern entstehen: Bei einigen Patienten zeigte sich auch eine signifikante Schädigung auf der Zellebene (etwa Defekte an G-Proteinen).Die Persönlichkeit bzw. die spezielle psychische Störung ein es Menschen (neurobiologische Vulnerabilität) nimmt grundsätzlich wesentlichen Einfluß auf das Suchtverhalten.

"Depressionen gehören zu den Volkskrankheiten", sagt Prof. Helmchen. Allein ein Viertel der Patienten von Allgemeinärzten - das fanden die FU-Psychiater heraus - kommt wegen einer psychischen Störung zum Arzt. Dabei fehlt es of t an einer exakten Diagnose. Auch die Therapie schlägt nicht an, wenn z.B. Tranquilizer statt Anti-Depressiva verschrieben werden. Diese Mißstände werden noch deutlicher bei der Behandlung von Depressionen im höheren Alter, wie die Ps ychiatrische Klinik in ihrem dritten Arbeitsschwerpunkt Psychiatrische Alterserkrankungen und Demenzforschung herausfand. In einer interdisziplinären Berliner Altersstudie (finanziert vom Forschungsministerium und Ministerium für Senioren) unte rsuchte sie die psychische Verfassung der 70- bis 100jährigen Großstadtbevölkerung. Dabei zeigte die Depression keinen Anstieg im Alter - im Gegensatz zur Demenz, der Altersverwirrtheit. Alte Menschen leiden nicht häufiger als die All gemeinbevölkerung - das heißt. nur zu fünf Prozent - an einer "Major Depression". Das ist die klassische Depression, wie sie der internationalen Standard-Diagnostik entspricht (Diagnosenschlüssel ICD 10).

Dabei steigt die Demenzhäufigkeit mit dem Alter eindeutig an: Von den über 90jährigen ist die Hälfte betroffen. Der Psychiater Helmchen, der auch Mitglied der nationalen Ethikkommission ist, entwickelte überdies Schutzkriterie n für die Forschung mit nicht einwilligungsfähigen Menschen; denn: "Forschung zur Minderung des Leidens von Demenzkranken ist unverzichtbar!"

Ein besonders Problem sieht Helmchen bei den grenzwertigen Depressionen, die die diagnostischen Kriterien der ICD 10 nicht erfüllen, aber dennoch behandlungsbedürftig sind. Dies betrifft immerhin fast 20 Prozent der 70 bis 100jährigen. Ihre Leidenssymptome, die bis zum Lebensüberdruß gesteigert sein können, sollten nicht leichtfertig als Reaktion auf den altersüblichen Verlust körperlicher Fähigkeiten wie Schwerhörigkeit, Geh- oder Sehschwäche in terpretiert werden. Warum sonst sind die restlichen 80 Prozent der alten Menschen frei von diesen Stimmungen? Deshalb empfiehlt Prof. Helmchen Ärzten und Angehörigen,,die Stimmungslage eines alten Menschen nicht als "alterstypisch" zu übergehen, sondern in die Behandlung einzubeziehen".

Mit 86 Menschen, die älter sind als 95, ist die dritte Nachuntersuchung im Zweijahresabstand geplant. "Durch die Bonner Sparpläne ist der Abschluß dieser Untersuchung gefährdet", Helmchen befürchtet den Verlust unw iederbringlicher Erkenntnisse: "Eine Studie mit 86 Menschen, die 101 Jahre und älter sind, wäre weltweit einzigartig." Da die Erforschung der Altersprobleme am Anfang steht, plant die FU-Psychiatrie den wissenschaftlichen Nachwuchs dur ch ein Graduiertenkolleg "Psychische Potentiale und Grenzen im Alter" zu fördern.

Sylvia Zacharias


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