Thema Impfungen

Fataler Mut zur Impflücke


Gefährliche Infektionskrankheiten drohen nicht mehr nur auf Fernreisen. Im Gegenteil: Es gibt weltweit immer mehr Länder, die von klassischen Seuchen bedroht sind. Krankheitserreger verbreiten sich auch hier durch die permanenten Flüchtlingsströme aus Gebieten, in denen Krankheiten wie Diphterie noch oder wieder verbreitet sind. So hat der Zusammenbruch des sozialistischen Gesundheitssystems in den osteuropäischen Ländern von eiserner Impfdisziplin zu weitgehender Impfmüdigkeit und zum Anstieg der Krankheitsfälle geführt. Während Kinder und Jugendliche meist die Standardimpfungen erhalten, klafft bei einem Großteil der erwachsenen Bevölkerung eine große Impflücke, nach Expertenschätzungen bei 60 bis 80 Prozent der Erwachsenen. Wenn die Grundimmunität nicht aufgefrischt wird, haben die Infektionserreger ein leichtes Spiel.

Nach neuesten Zukunftsvisionen wird der Globus nicht mehr von Atombomben, sondern von Seuchen bedroht. In amerikanischen Filmen wie "Outbreak" und "12 Monkeys" sind es Viren, die die Rolle des menschheitsvernichtenden Todesboten spielen. "Bei Viren ist eine Behandlung nach wie vor nur in ganz seltenen Ausnahmen möglich. Gegen Viren ist Vorbeugen durch Impfung auch heute noch der wesentlich verläßlichere Schutz," konstatiert der FU-Virologe Prof. Karl-Otto Habermehl kategorisch. Doch wer denkt schon ans Impfen, wenn er im Kinosessel sitzt - und auch sonst denken immer weniger daran: "Die Impffreudigkeit läßt ganz eindeutig nach", bilanziert Prof. Habermehl bekümmert. Obwohl aktuelle Statistiken der WHO ganz klar belegen: durch Schutzimpfungen wurden 1994 allein drei Millionen Kinder vor dem Tod bewahrt.

Schuld an der Sorglosigkeit sind für Professor Habermehl allerlei Vorurteile, gezüchtet "von Medien oder Vertretern der sogenannten natürlichen Lebensweise", die die Gefahren des Impfens hochspielen. Kurz: Die Bedeutung des Impfens scheint mittlerweile nicht mehr richtig eingeschätzt zu werden.

Weil eine vorbeugende Impfung der beste Schutz gegen Viren ist, stellen vor allem Virusinfektionen wie Polio, Masern, Mumps und Röteln die wichtigste Indikation zur Schutzimpfung dar. Mumps etwa kann beim Erwachsenen zur Sterilität führen. Bei Masern kann es Folgeinfektionen wie Lungenentzündung und Hirnhautentzündung geben. Röteln in der Schwangerschaft können zu Mißbildungen des Kindes führen. Auch die Kinderlähmung, so Habermehl, "ist noch nicht ausgerottet." Selbst wenn wir hier in Deutschland - infolge der Impfung - zur Zeit keine Poliofälle haben, kann "eine Reise ins Ausland - und Ausland kann schon Türkei sein - gefährlich sein."

Eine Impfung löst im Körper ein individuell auf einen Erreger zugeschnittenes Verteidigungsprogramm aus. Ändert dieser seine Konstitution, greifen die Antikörper ins Leere. Dies ist einer der Gründe, weshalb kein Impfstoff gegen AIDS entwickelt werden kann. "Das HIV-Virus hat eine hohe genetische Variabilität", erläutert Habermehl, "sein Erbgefüge ist nicht stabil und die Proteine des Virus, gegen die wir unsere Antikörper ausbilden, ändern ihre Eigenschaften so, daß die nach einer Impfung gebildeten Antikörper die Nachkommen dieses Virus nicht mehr erkennen." Komplexe aus Viren und Antikörpern können nach wie vor bestimmte Zellen des Immunsystems (Makrophagen) infizieren.

Ähnliche Probleme gibt die Influenza auf. Alle Winter wieder erfaßt diese Virusepidemie auch Deutschland. Vor allem Menschen über 60 sind gefährdet. Die genaue Zahl ist schwer zu erfassen, da zur Diagnose eine Blutuntersuchung nötig wäre. Stattdessen steht dann Herzversagen oder Lungenentzündung auf dem Krankenschein. Wie das HIV ist das Influenza-Virus genetisch variabel. "Die normalen Variationen des Virus führen schon dazu, daß man weltweit jedes Jahr die Impfstoffe neu anpassen muß", sagt Habermehl. "Das hält dann für ein bis drei Jahre." 1918/19 war das noch nicht so: Als damals ein neuer Influenza-Subtyp auftrat, sind innerhalb von zwei Jahren mehr als 20 Millionen Menschen auf der ganzen Welt daran gestorben.

Habermehl propagiert die Abkehr von der Impfscheu: "Soviel wie möglich und sobald wie möglich impfen - denn wir wissen niemals, wann wieder eine stärkere Epidemie kommt!" heißt sein Motto. Als Faustregel gilt: Wer einen Impfschutz für Polio, Diphterie, Tetanus, Masern, Mumps und Röteln aus der Kindheit hat, sollte ihn sich in bestimmten Abständen auffrischen lassen. Wer nicht, sollte sich unbedingt ärztlich beraten lassen.

Sylvia Zacharias


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