Patientengeschichte

Fünf Hunde gegen fünf Menschen


Fünf Hunde gegen fünf Menschen: ein Hitchcock hätte kein schlimmeres Drama erfinden können. Ein Haus am Waldrand in Beelitz, an einem sonnigen Freitagnachmittag. Peter und Viola Pfarr* und ihre Töchter Stephanie (16) und Vivian (10) treffen Vorbereitungen für ihre Gäste. Die kleine Lisa (3) spielt im Garten. "Paß auf Lisa auf! Ich hole Wasser", sagt der Vater zu Vivian. Kaum ist er im Haus verschwunden, hechtet plötzlich eine Meute von fünf großen Rottweilern in den Garten und stürzt sich auf die Dreijährige. Die Hunde kommen von der Entenjagd. Sie gehören dem Nachbarn, einem Hundezüchter.

,Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Furien von meinem Kind abließen", berichtet Lisas Mutter. Die Rottweiler waren nicht durch ihren Herrn zu vertreiben, der sich schützend dazwischen warf. Nicht durch Steine. Nicht durch Holzscheite, mit denen das Ehepaar Pfarr auf sie einschlug. Erst der Frau des Hundezüchters, von den Schreien der Mutter herbeigerufen, gelang es schließlich, die Tiere wegzuziehen.


Die dreijährige Lisa (auf dem Foto mit ihrer Mutter) wurde von fünf Hunden aus der Nachbarschaft angefallen und schwer verletzt. Äußerlich ist sie wieder hergestellt. An den psychischen Folgen leidet die ganze Familie.

Der Rettungshubschrauber bringt Mutter und Kind nach Berlin, ins Universitätsklinikum Benjamin Franklin. "Lisa war völlig apathisch. 'Weine, Lisa, weine. Schrei'!", rief die Mutter. Was sie hier instinktiv machte, war genau das Richtige: Das Kind durfte das Bewußtsein nicht verlieren.

,Ich saß schon auf meinem Fahrrad, als ich zurück, in den OP gerufen wurde", erinnert sich Dr. Klaus-Dietrich Wolff, Privatdozent an der Abteilung für Kieferchirurgie und Plastische Gesichtschirurgie. Erst auf dem Operationstisch wurden die Verletzungen der kleinen Patientin sichtbar. Der Kopf war skalpiert. Die Mutter: "Er sah aus wie eine geschälte Apfelsine." Das rechte Bein wies mehrere gefährliche Wunden auf.

Die Ärzte arbeiten sieben Stunden lang, in zwei Teams gleichzeitig. Dr. Wolffs Team an Lisas Kopf, das Team des Kinderchirurgen Dr. Döde an Lisas Bein. Glück im Unglück: Das handtellergroße Stück Kopfhaut, das am Schädel des Kindes fehlte, wurde von Peter Pfarr im Sand aufgelesen und war, in Eiswürfel verpackt, vom Hubschrauber mitgebracht worden. "Nur weil mein Mann noch einmal zurückging, um Lisas Schnuller zu holen", erinnert sich die Mutter. "Ganze zwei Stunden dauerte die Reinigung des Hautstückes", so Dr. Wolff.

Rückverpflanzungen dieser Art sind "ein Versuch, mehr nicht." Nur wenn die Blutversorgung wieder in Gang kommt, kann das Hautstück anwachsen. Dazu mußte der Chirurg das Transplantat und die Anschlußstellen in der umgebenden Haut nach Blutgefäßen absuchen. Dr. Wolff: "Venen und Arterien in diesem Bereich sind dünner als ein Millimeter und können nur unter dem Mikroskop 'mikrochirurgisch' zusammengefügt werden." Zunächst floß zwar Blut in die wiederangenähte Haut hinein, doch beim Abfluß staute es. Um das Blut abzuleiten, setzte der Chirurg mit dem Skalpell feine Ritze. Das wiederum machte zwei Bluttransfusionen nötig. Interessanter Nebenaspekt: "Mit Blutegeln wäre das einfacher gegangen, aber die hat unsere Apotheke nicht mehr." Die Prozedur führte schließlich zum Erfolg. Bald werden auch wieder Haare an Lisas Kopfhaut wachsen.

Während Mutter und Tochter zwölf Tage im Klinikum blieben, nahm der Vater die Rechtsfrage in Angriff. Seinen Antrag auf sofortiges Entfernen der gefährlichen Hunde wies die Kriminalpolizei ab. Sie sah auch kein "öffentliches Interesse" an einer Ermittlung und vernahm keine Zeugen. Auf Peter Pfarrs Frage, warum er nicht zur Aussage bestellt wurde, erhielt er als Antwort: "Wir wollten Sie schonen." Eineweitere böse Überraschung fand sich im Polizeibericht. Dort steht: "Die Hunde waren angeleint." Viola Pfarr empört sich: "Wie so oft, waren sie auch diesmal ohne Leine unterwegs." Erst als sich das 'öffentliche Interesse' in der Person von Margarete Schreinemakers (schon sechs Tage nach dem Vorfall, TV-Sendung am 2. November 1995) zum Anwalt der Opfer machte, vor Ort recherchierte und Lisas Vater und Dr. Wolff ins Studio bat, schaltete sich die Staatsanwaltschaft ein. Am Tag nach der Sendung wurden die Hunde plötzlich von der Polizei abtransportiert.

Doch damit war das Drama keineswegs beendet. Viola Pfarr: "Unser Leben verläuft seit dem Unglückstag nicht mehr normal." An den psychischen Wunden leidet die ganze Familie. Die fröhliche kleine Lisa, äußerlich wiederhergestellt, ist nicht mehr wiederzuerkennen. Sie braucht ihre Mutter rund um die Uhr, näßt und kotet erneut ein. Vor allem, was sich bewegt, vor jeder Fliege, jedem Auto, ja selbst vor Hüten hat sie schreckliche Angst.

Die zehnjährige Vivian leidet unter Schuldgefühlen, weil der Vater gesagt hatte, 'Paß auf Lisa auf!'. Stephanie, die Älteste, wird "den Geruch von Blut nicht wieder los". Die Mutter leidet an Panikattacken: "In ruhigeren Momenten habe ich immer wieder dieses Kampfbild vor Augen." Trotzdem bleibt Viola Pfarr optimistisch: "Dr. Wolff vermittelte uns einen fähigen Psychotherapeuten. Er hat uns schon sehr geholfen." Er bestärkte die Familie darin, Lisa ein kleines Tier zu schenken.

Für Juni hat die Staatsanwaltschaft Potsdam einen Gerichtstermin angesetzt. Familie Pfarr und zwei weitere geschädigte Familien treten in dem öffentlichen Strafverfahren als Nebenkläger auf.

Hunde - der Deutschen liebstes Kind? Alle Macht den Hunden - Maulkörbe für Kinder? Im Durchschnitt werden monatlich zwei Kinder mit Hundebissen am FU-Klinikum versorgt. Eine entsprechende Polizeistatistik existiert nicht. Familie Pfarr fordert: Maulkorb- und Leinenzwang für scharfgemachte Hunde!

Sylvia Zacharias


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