Patientengeschichte
"Ich will mein Kind nicht als Objekt betrachten"
Das hübsche, kleine Mädchen kommt freudig auf
mich zu und gibt mir die Hand. Ich sage meinen Namen. "Wylvia" wiederholt das Kind laut und deutlich. Dann erzählt es mir mit lebhaften Gebärden eine Geschichte. Seine Mutter übersetzt: "Im Haus von Julianes Freundin hat es gebrannt!" Nur e
in geschultes Ohr kann die fremdartige Sprache ihres Kindes verstehen.
Die siebenjährige Juliane Heine ist seit ihrer Geburt gehörlos.
Um gesprochene Wörter ihrer Mutter und auch ihre eigenen Wörter zu verstehen, braucht sie ein sehr starkes Hörgerät. "Mit der Betreuung an der Charité war ich nicht zufrieden", sagt Ilona Heine. Nach der 'Wende' setzte sie desha
lb alles daran, ihr Kind ans Universitätsklinikum Benjamin Franklin zu bringen. So war Juliane bereits vier, als sie im Frühjahr 1993 Patientin der Fachärzte für kindliche Hörstörungen (Pädaudiologen) an der Steglitzer A
bteilung für Audiologie und Phoniatrie wurde.
Hörstörungen können Defizite auf anderen Ebenen - Sprache, Kommunikation, Kognition, Verhalten, und Emotionalität - verursachen. Darum untersuchen die Pädaudiologen nicht nur das Ge
hör. Ebenso wichtig ist die psychologische Diagnostik: Bei Juliane ergab sie eine 'zentralnervöse Teilleistungsstörung' auf dem Gebiet der Merkfähigkeit.
"Die normale kindliche Sprachentwicklung umfaßt eine große Vie
lfalt an kognitiven Teilprozessen", setzt Oberarzt Dr. Markus Hess auseinander: "Aufmerksamkeit, Konzentration, Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis, Unterscheidung von Sprachschall und Störschall (wie wir Erwachsenen das von Parties kennen), die U
nterscheidung und Wiedererkennung von Gehörtem...." Wie gravierend die Folgen von 'Betriebsstörungen' in diesem Bereich sind, zeigt die Entdeckung der Psychologen, daß Juliane trotz akustischer Rehabilitierung durch ein 'HdO' (=Hinter-dem-
Ohr)-Gerät immer noch nicht mehr als drei Geräusche kennt: Hundegebell, Katzengejaule und Glockengeläut.
Die siebenjährige Juliane Heine ist seit ihrer Geburt gehörlos. Um die Sprache ihrer Mutter und auch ihre
eigenen Wörter zu verstehen, braucht sie ein starkes Hörgerät.
Für die Eltern war die Entdeckung des Hörschadens schmerzvoll. "Wir hatten uns immer wieder selbst beruhigt. Teils, weil wir uns vor der Wahrheit fürchteten, teils, weil die Zeichen nicht eindeutig waren", sagt Ilona Heine. "Wenn Juliane in
ihr Spiel vertieft war, ließ sie sich nicht einmal durch Anpusten stören." Wenn eine Tür auf und zu ging, hat sie zwar reagiert; aber wohl mehr auf den Luftzug. Das einjährige Kind ließ sich nicht einmal vom Staubsauger aus der
Ruhe bringen. Die Oma war es dann, die sich traute und einen Termin beim Hals-Nasen-Ohrenarzt beschaffte.
Damit Sprache zu dem hoch-automatischen Vorgang werden kann, den wir alle nutzen, "müssen im Gehirn Lautverbindungen - also Silben und Wörter - grammatikalisch zusammengesetzt werden", analysiert der Arzt. Hess: "Fehlende oder auch nicht geh&oum
l;rte Wörter werden dabei 'sinnvoll' ergänzt. Sie werden also in ein bestehendes Sprachmuster eingefügt bzw. assoziiert."
Bärbel Wohlleben, eine von vier Psychologen der Abteilung, erklärt, warum Julianes Sprachleistungen auf der Ein-Wort-Ebene 'Ball' oder 'Haus' gut, bei der Satzbildung dagegen ungenügend sind und in einen 'Wortsalat' münden. "Ich diagn
ostizierte bei Juliane in den meisten Bereichen einen Super-IQ. Die 'innere Sprache' ist bei ihr absolut ungestört. Zuordnungsaufgaben zu Kategorien wie 'Wasser' oder 'Endlichkeit' hat das Mädchen gut bewältigt." Auffallend gut sind auch Ju
lianes Rechenleistungen. "Schwierig wird es," so Wohlleben, "wenn es ans Speichern von Abfolgen geht. Es war dem Mädchen anfangs nicht möglich, auch nur zwei Handstellungen nachzuahmen. Mittlerweile schafft es immerhin schon vier."
Mit Hilfe von Fotos bereiten die Eltern das Kind auf seinen Tag vor. "Juliane braucht viel visuelle Unterstützung, um Sprache zu aktivieren", betont die Psychologin. "Sie lernt Vokabeln besser, wenn das Gehörte mit einem Bild oder einem Schriftz
ug verknüpft wird." Aus Fingern geformte Buchstaben können Eselsbrücken zum ganzen Wort sein. Dazu kommt der gestische Ausdruck und das Mundbild des Schwerhörigen. Nach diesem Rehabilitationskonzept arbeiten die Schule für Hö
rbehinderte und die Einzelfallhilfe für Juliane. Be-greifen: Lernen auf mehreren Kanälen ist die Maxime. Bärbel Wohlleben sucht jetzt für Juliane außerdem nach einem Musiktherapeuten. Sie hofft, daß rhythmisch und melodisch
Gehörtes weitere Fortschritte bringt und ist froh über die Ausdauer des Mädchens.
"Juliane schafft es eigentlich immer, jedem klar zu machen, was sie von ihm will", konstatiert die unverdrossene Mutter. "Wir albern auch viel herum", sagt sie, "denn ich will mein Kind nicht als Objekt betrachten, an dem ich irgendein Ziel verfolge." Dem
fröhlichen Kind ist anzumerken, daß es viel Zuwendung bekommt.
Sylvia Zacharias