Wachstumshormone

War Schneewittchen vorgealtert?


Die sieben Zwerge waren vermutlich das Opfer einer innersekretorischen Erkrankung: ihre Hirnanhangdrüse fabrizierte zu wenig Wachstumshormone. Diese auch Hypophyse genannte Drüse könnte das Schneewittchen ebenfalls auf dem Gewissen haben. Während ein Mangel an Wachstumshormonen bei Kindern verhindert, daß Organe und Gliedmaßen zu voller Größe auswachsen, führt er beim Erwachsenen zur Beschleunigung der inneren Alterungsvorgänge.

Dabei kann ein dem Anschein nach gesunder Dreißigjähriger die körperliche Verfassung eines Siebzigjährigen haben, also mehr Fett als Muskeln, ein schwaches Herz, schlecht durchblutete Nieren und brüchige Knochen. Eine vorzeitige allgemeine Gefäßverkalkung, hervorgerufen durch Störungen im Fett- und Glukosestoffwechsel, macht das Maß dieser äußerlich nicht sichtbaren Vergiftung voll. Darum tragen Patienten mit Wachstumshormonmangel ein zwei-bis dreifach höheres Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben", erklärt Dr. Ursula Plöckinger, Neuroendokrinologin am Universitätsklinikum Benjamin Franklin. Sie hat gerade eine Studie zu dieser Erkrankung fertiggestellt.

Wie ein kleines Labor versorgt die Hypophyse unseren Körper regelmäßig mit acht lebenswichtigen Substanzen, darunter auch das sogenannte somatotrope, das Wachstums-Hormon (STH). Vermag das Labor nicht mehr ausreichend STH herzustellen, steckt beim Erwachsenen meist eine Geschwulst dahinter. Sie ist zwar gutartig, überwuchert und zerstört jedoch wachstumshormonbildende Zellen, die damit ihre Tätigkeit einstellen. Demgegenüber ist der Hormonmangel bei Kindern entweder angeboren oder durch ein Geburtstrauma bedingt.

Wie dem Altern haftet auch dem Voraltern etwas Relatives an: Der hormonbedingte innere Umbau des Körpers ruft beim Patienten zunächst keine klaren Symptome hervor. Kaum ein Arzt würde hinter Müdigkeit, Antriebsarmut oder Gewichtszunahme die Hypophyse vermuten. Seit kurzem weiß man, daß Wachstumshormone auch Einfluß auf psychische Vorgänge nehmen. Für Dr. Plöckinger ist deshalb nicht verwunderlich, was die Epidemiologen über Kranke mit diesem Leiden herausfanden: sie sind seltener verheiratet, häufiger arbeitslos und sozial stärker isoliert als der Rest der Menschheit.

Erst die Summe mehrerer vieldeutiger Symptome addiert sich dann zu einem drastischen Krankheitswert und befördert den Patienten zuguterletzt doch noch in die Sprechstunde eines Spezialisten. Das sind in jedem Jahr etwa 800, das heißt auf 1 Million Bundesbürger kommen 10 Erkrankte. Eine Therapie, die die Ursache des Wachstumshormonmangels angeht, ist allerdings noch in der Testphase. Erst Mitte der 80er Jahre gelang es, die komplizierte Eiweißstruktur des Hormons im Gen-Labor nachzubilden. Bis dahin war ein Extrakt aus der menschlichen Drüse, gewonnen aus der Hypophyse Verstorbener, das einzige Therapeutikum. Das kostbare Elixier blieb jedoch zwergwüchsigen Kindern vorbehalten.

Rund 100 Patienten im Alter zwischen 20 und 65 Jahren erhalten im Rahmen einer bundesweiten 'Multicenterstudie' ein neues, gentechnisch hergestelltes Wachstumshormon, das mit dem physiologischen STH identisch ist. Zwölf von ihnen werden von Ursula Plöckinger verarztet. Das neue Präparat ist auch in der Anwendung einfach: Einmal täglich am Abend vor dem Schlafengehen spritzen sich die Patienten den Stoff unter die Haut. Dabei wird versucht, die Ausschüttung des Hormons, die an die Schlafphasen gekoppelt ist, nachzuahmen. Eines der Hauptprobleme war laut Plöckinger die Dosisfindung: ,Bereits die Bestimmung der Normalwerte des STH gestaltet sich kompliziert, da es pulsartig abgesondert wird und damit die nachweisbaren Konzentrationen zwischen nicht-meßbaren Werten und relativ hohen Werten schwanken können."

Für die rountinemäßige Anwendung des geklonten STH muß noch grünes Licht von der Arzneimittelzulassungsbehörde kommen. Das seit kurzem auf dem Pharmamarkt erhältliche Medikament ist nur für die kindliche Hormonersatztherapie zugelassen. Wegen der hohen Forschungs- und Entwicklungsausgaben wird die lebenslange Substitution des Hormons viel Geld verschlingen. 70.000 Mark müssen allein pro Jahr und Patient aufgebracht werden. Doch im Vergleich zu den 250 Hypophysen aus der Pathologie, die früher zur Herstellung einer einzigen Tageseinheit gebraucht wurden, gibt es unzweifelhaft auch finanziell einen Fortschritt.

Sylvia Zacharias


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