1995: 100 Jahre Röntgenstrahlen und 150. Geburtstag von Wilhelm Conrad Röntgen

"Ich dachte nicht, sondern ich untersuchte"


Nur wenige Entdeckungen sind so auf eine Person, einen Zeitpunkt und einen Ort festgelegt, wie die Erfindung der Röntgenstrahlen durch Wilhelm Conrad Röntgen (1845 - 1923). Zum 1. Januar 1896 schickte der Würzburger Physiker ein kleines Heftchen mit einem Aufsatz "Über eine neue Art von Strahlen" an seine Fachkollegen, dessen Inhalt in Windeseile um die Welt ging.

Röntgen faßte darin zusammen, was er am Abend des 8. Novembers 1895 in seinem Labor im physikalischen Institut der Universität Würzburg entdeckt hatte. Einer seiner Lehrstuhl-Nachfolger, Walther Gerlach, schildert die Erfindung so: "Die 'neue Art von Strahlen' wurde beim Auftreffen von Kathodenstrahlen auf feste Körper erzeugt; sie breiteten sich wie Licht aus, wurden aber nicht gebrochen, gingen kaum geschwächt durch undurchsichtige Körper, selbst Metalle, hindurch, von welchen das Licht fast hundertprozentig reflektiert wird ..." Der Menschheitstraum, in das Innere eines lebenden Körpers hineinsehen zu können, erfüllte sich und verhalf den Medizinern zu neuen Erkenntnissen und Heilmethoden.


"Ich arbeitete mit einer Hittorf-Crookesschen Röhre, welche ganz in schwarzes Papier eingehüllt war. Ein Stück Bariumplatinzyanürpapier lag daneben auf dem Tisch.
Ich schickte einen Strom durch die Röhre und bemerkte quer über das Papier eine eigentümliche schwarze Linie. (...)
Die Wirkung war derart, daß sie (...) nur von einer Lichtstrahlung herrühren konnte.
Es war aber ganz ausgeschlossen, daß von der Röhre Licht kam, weil das dieselbe bedeckende Papier sicherlich kein Licht hindurchließ, selbst nicht das einer elektrischen Bogenlampe.
Ich dachte nicht, sondern ich untersuchte. Bald war jeder Zweifel ausgeschlossen. Es kamen 'Strahlen' von der Röhre, welche eine lumineszierende Wirkung auf den Schirm ausübten.
Sicher war es etwas Neues, noch Unbekanntes."


Was Röntgen vor 100 Jahren mit einfachster Apparatur herausfand, wurde weltweit zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel in der Medizin und revolutionierte Diagnostik und Therapie. Bereits im Januar 1896 sah der Internist und Psychiater Moritz Jastrowitz die immensen Möglichkeiten der neuen Untersuchungsmethode voraus. "Für die Medicin ist die Sache augenscheinlich wichtig, Die Chirurgie dürfte daraus jedenfalls Vortheil durch Knochenphotographie am Lebenden ziehen. Fracturen, Luxationen, Auftreibungen, Fremdkörper wird man gut erkennen; ich mache auch auf die scharfen Umrisse der im Photogramm hellen Fingergelenke aufmerksam; man wird in die Gelenke hineinsehen können. Es ist auch möglich, daß wir im Innern des Körpers, in den Leibeshöhlen, falls die Strahlen deren Decken passieren, manche Veränderung erkennen werden, vielleicht dichtere Tumoren, welche für die X-Strahlen weniger durchlässig sind, zum Beispiel bei Darmverschluß die Kothstauungen, wodurch die Stelle des Verschlusses dem Auge deutlich würde."

Erste medizinisch indizierte Röntgenaufnahmen erfolgten ebenfalls schon im Januar 1896 in Wien (Gelenkverletzung), Berlin (Glassplitterverletzung einer Hand) und in London (Hand mit Revolverkugel). Aber auch die Schattenseiten der nahezu alles durchdringenden Strahlen waren bereits im Jahr nach der Entdeckung bekannt. Marcuse beschrieb in Berlin als Folge der Röntgenstrahlung einen Fall mit Radiodermatitis und Haarausfall. Und 1897 wurden erstmals Strahlenschäden bei tieferliegendem Gewebe erkannt.

Die Gerätschaften, die Wilhelm Conrad Röntgen in seinem Würzburger Labor zur Verfügung standen, zählten in dieser Zeit in jedem gut ausgestatteten physikalischen Labor zur Standardausrüstung.

Der 50jährige als Maschineningenieur und als Physiker ausgebildete Röntgen erkannte die Tragweite seiner Strahlen sehr rasch. Die Strahlen wurden zunächst X-Strahlen genannt, aber bereits im Januar 1896 von dem Anatom Rudolf Albert von Kölliker als Röntgenstrahlen bezeichnet. Röntgen arbeitete kontinuierlich weiter an ihren physikalischen Grundlagen. Und zwar so intensiv, daß in den folgenden 10 bis 15 Jahren keine grundlegenden neuen Forschungsergebnisse über seine eigenen hinaus dokumentiert wurden. Währenddessen trieb die Entdeckung der Röntgenstrahlen auch die Arbeit in den physikalischen Instituten voran. Man kann vielleicht sogar so weit gehen, zu sagen, daß die Erfindung dazu führte, daß die Notwendigkeit physikalischer Teamarbeit erkannt wurde. Die Übergangsphase vom Forschungsergebnis bis zur Auswertung durch die Industrie begann sich in dieser Zeit zu verkürzen. Zuvor waren noch Jahrzehnte vergangen, ehe der Niederschlag der Technik meßbar war.

Die allgemeine Verfügbarkeit der Röntgenstrahlen setzte eine Kette weiterer Erfindungen in Gang. So begrenzten zum Beispiel extrem lange Belichtungszeiten durch leistungsschwache Gasionenröhren die diagnostischen Möglichkeiten entscheidend. Die Entwicklung bis hin zur modernen Keramikröhre stellte höchste Anforderungen an die Ingenieurwissenschaften und zeigt exemplarisch die Innovationskraft, die von Röntgens Entdeckung ausging. Ein weiteres

Beispiel ist die Kontrastmittelforschung, die schon 1896 ihren Anfang nahm. Eine weitere Folge dieses umwälzenden Prozesses war eine Flut von Publikationen. Allein im Jahr nach der Entdeckung wurden über 1.000 Veröffentlichungen gezählt. Zudem bildete sich auf dem Gebiet der Röntgenstrahlen frühzeitig eine breite Organisationsstruktur zur Weiterentwicklung und Verbreitung des Fachwissens durch Fachgesellschaften und Fachzeitschriften. Im Mai 1896 erschien erstmals in England "The Archivs of Clinical Skigraphy", im Mai 1897 in den USA das "American X-ray Journal" sowie gleichzeitig in Deutschland die "Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen". Ab 1905, dem Gründungsjahr der Deutschen Röntgengesellschaft, erschien auch das offizielle Mitteilungsorgan dieser Organisation. Die Röntgen Society of England wurde im Juni 1897, die Berliner Röntgengesellschaft im März 1898 als erste Fachgesellschaften gegründet. Wilhelm Conrad Röntgen wurde im Jahre 1901 für seine epochale Erfindung mit dem ersten Nobelpreis für Physik ausgezeichnet.

Felicitas Wlodyga


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