OSI verleiht polnischem Außenminister Geremek die Ehrendoktorwürde

Erbarmen und Galgen



Bronislaw Geremek:
,,Ich wurde somit zum Ehrenmitglied der Berliner Gemeinschaft der Professoren und Studenten und dies zu einem Zeitpunkt, zu dem die Freie Universität ein Jubiläum feiert und Berlin zur deutschen Hauptstadt wird. Jetzt zu sagen: ,,Ich bin ein Berliner``, würde keinen Akt der Tapferkeit oder der Solidarität darstellen. Der Zeitpunkt scheint eher geeignet für eine Reflexion.`` (Foto: Inge Kundel-Saro)
Natürlich habe er spontan zugesagt, erzählte Außenminister Joschka Fischer während des Festaktes zur Ehrenpromotion seines polnischen Kollegen Bronislaw Geremek anläßlich des fünfzigsten Jubiläums des Otto-Suhr-Instituts im überfüllten Audimax. Schließlich sei der polnische Außenminister eine ,,bewundernswerte Persönlichkeit und Freund``. ,,Ich hatte persönlich immer Schwierigkeiten mit Lehrinstituten``, fuhr Fischer zum Amüsement des Publikums fort, aber ,,ich hatte eben auch keinen Lehrer wie den polnischen Intellektuellen und Historiker Bronislaw Geremek``. Die Brille nach vorne geschoben, zeichnete Fischer von seinem polnischen Kollegen das Bild eines Kämpfers für Freiheit und Demokratie, das Bild eines großen Europäers und polnischen Patrioten.
Souverän wechselte Fischer in seiner freigehaltenen Rede vom Freund zum Staatsmann: Das Verhältnis zu Polen müsse ähnlich gestaltet werden wie nach dem Krieg die Aussöhnung mit Frankreich. So sei die Integration Polens als Antwort auf die nationalsozialistische Diktatur zu verstehen, weshalb Fischer versprach, sich für die Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einer ,,gesamteuropäischen Union unter besonderer Berücksichtigung des osteuropäischen Nachbarn`` einzusetzen. Es gehe nur noch ,,um das Wie und Wann des Beitritts``, so Fischer.
,,Wir können als jüngere Generation nicht unserer Geschichte entkommen``, sagte Fischer und gab damit das Stichwort, für das Leben eines Mannes, in dessen ,,Kindheit die Welt immerfort einstürzte``.

Joschka Fischer: ,,Ich habe die Freie Universität nicht besucht. Doch sowohl für mich als auch für den ehemaligen AStA-Vorsitzenden Eberhard Diepgen war die Freie Universität 1968 ein Leuchtpunkt, wenngleich im unterschiedlichen Sinne. Gottes Wege sind merkwürdig.`` (Foto: Inge Kundel-Saro)

Denn wie viele jüdische Intellektuelle hat der heutige Außenminister die Brüche Polens in diesem Jahrhundert schmerzhaft am eigenen Leib erfahren. Als Sohn einer Rabbinerfamilie 1932 in Warschau geboren, überlebt Geremek mit seiner Mutter die Grauen des Warschauer Ghettos, wird katholisch erzogen, vom Marxismus angezogen, bis er 1968 wegen des Einmarsches der Warschauer Paktgruppen in Prag aus der Kommunistischen Partei austritt und Anfang der achtziger Jahre zum führenden Intellektuellen der Gewerkschaft Solidarnosc wird. Wie eng die Wahrheitsfindung des Politikers Geremek mit seiner Biographie, aber auch mit seinen brillianten Forschungsarbeiten als Mittelalter-Historiker zusammenhängen, veranschaulichte Gesine Schwan, die die Laudatio auf Geremek hielt. Unbeirrbar habe sich Geremek in seinem Leben an den Werten der Freiheit und der Solidarität, denen er sein eigenes Überleben verdanke, orientiert. ,,Die innere Ruhe bezog er aus der Stärke seiner persönlichen Identität, die Enttäuschungen zu verkraften gelernt hatte, weil es ihm gelungen war, an den Gegensätzen der schrecklichen Grenzerfahrungen seines Lebens nicht zu zerbrechen, sondern sie in seine Persönlichkeit zu integrieren und in Offenheit zu verwandeln.`` Folgerichtig hat Geremek, der bei Ferdinand Braudel an der Sorbonne studierte, sich in seinem von der Annales-Schule geprägten wissenschaftlichen Werk mit den Außenseitern der Gesellschaft wie den Pariser Lohnabhängigen im Spätmittelalter auseinandergesetzt. ,,Geschichte der Armut``, auf polnisch: ,,Erbarmen und Galgen``, ist sein in zehn Sprachen übersetztes Hauptwerk.
 ,,Ich bin der Freien Universität, für den mir verliehenen Ehrentitel zutiefst dankbar``, erwiderte Geremek in seiner auf deutsch gehaltenen Dankesrede. Wie sein Kollege Fischer, mit dem ihn manche Ähnlichkeit verbindet, tritt Geremek für ein Erinnern fern von Schuld im Sinne eines Wissens um die eigene Vergangenheit ein. Polen habe sich aus eigener Kraft in den vergangenen neun Jahren reformiert. Selbstbewußt fügte der Staatsmann hinzu: Polen sei bereit, der Europäischen Union beizutreten und erwarte den Zeitpunkt, an dem die EU bereit sein werde, sein Land aufzunehmen. Die deutsche Unterstützung sei dabei ,,keine barmherzige Beihilfe``, sondern ,,eine politische Strategie von fundamentaler Bedeutung``.
Obgleich Geremek inzwischen häufig ausgezeichnet wurde, u.a. 1998 mit dem Karlspreis der Stadt Aachen und mit zwölf Ehrendoktoren, zeigte Geremek sich von der dreizehnten Ehrendoktorwürde sichtlich gerührt. Die erste Ehrendoktorwürde habe er noch im Gefängnis erhalten, erzählte er auf der anschließenden Pressekonferenz. Am Nachmittag ehrte das Otto-Suhr-Institut Bronislaw Geremek mit einem öffentlichen Symposium zum Thema: ,,Trust and Memory in Conflict Resolution``.

Felicitas von Aretin


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