Der Philosoph Michael Theunissen emeritiert

Rettung verschütteter Erfahrungen



Ein Vierteljahrhundert lang hat Michael Theunissen am Institut für Philosophie der FU Berlin gelehrt, als Assistent und Privatdozent zwischen 1959 und 1967, von 1980 an bis zu seiner Emeritierung im abgelaufenen Semester auf dem Lehrstuhl für theoretische Philosophie, der die klassischen Disziplinen der Philosophie vereinigt. Daß Theunissen gleichwohl sein Verhältnis zur Philosophie jüngst als "tangential" bezeichnet hat, mag nur auf den ersten Blick überspitzt-provokativ erscheinen. In Wahrheit kommt hierin eine Überzeugung zum Ausdruck, die für sein Denken im Laufe der Zeit immer grundlegender geworden ist: Ein angemessenes Selbstverständnis vermag die Philosophie gerade nicht zu gewinnen, wenn sie sich rein mit sich selbst beschäftigt, sondern nur, wenn sie ihre Herkunft aus dem außer- und dem vorphilosophischen Denken reflektiert, also bedenkt, daß sie sich aus der Opposition zum Epos, zur Lyrik und zur Tragödie allererst formiert hat. Theunissens intensive Beschäftigung mit dem frühgriechischen Denken zielt darauf, verschüttete "Urerfahrungen" zu retten, die in der Philosophie nur als abgedrängte präsent geblieben sind.
Der Sache nach bildet das große Thema "Zeit" den Schwerpunkt von Theunissens Arbeit im letzten Jahrzehnt. Er begreift die Zeit als die uns auch zuvorkommende und als solche über uns herrschende Realität, vor deren Hintergrund die Existenz des Menschen in ihrem gesamten Spektrum zwischen Leiden und Glück erst angemessen verstanden werden kann. Diese in der akademischen Philosophie seltene Verbindung von fundamentalphilosophischer Ausrichtung und dem Interesse an den Grundbedingungen menschlichen Existierens prägt das Denken Theunissens nicht erst in den letzten Jahren, sondern durchgängig, seit der Dissertation "Der Begriff Ernst bei Sören Kierkegaard".
Dem philosophischen mainstream tritt Theunissen auch damit entgegen, daß er einer restlosen Verwissenschaftlichung der Philosophie nicht das letzte Wort beläßt, sondern neben der Verwiesenheit der Philosophie an die Fachwissenschaften ihre besondere Beziehung zur Religion und zur Kunst betont. Eine wesentliche Aufgabe der Philosophie sieht Theunissen darin, das an den Gegenständen der Wissenschaften freizulegen, was sich diesen selbst entzieht. Vor allem in der Auseinandersetzung mit der Psychopathologie der Zeit hat er diese Perspektive verfolgt.
Die Bewegung eines Rückgangs in den Grund dessen, was ist, die das Gegebene zugleich übersteigt,  charakterisiert nicht allein Theunissens Schriften, sondern macht einen guten Teil der Faszination aus, die er als Lehrer ausübt. Das unzeitgemäße Beharren auf genauer Textarbeit, die gleichwohl nicht zum Selbstzweck verödet, sondern von klaren Sachinteressen angeleitet bleibt, ist Grundlage einer verbindlichen, zugleich leidenschaftlichen und ernsthaften Arbeitsatmosphäre, die im universitären Betrieb Seltenheitswert besitzt. Über Jahrzehnte hat Theunissen in seinen stets sehr gut besuchten Vorlesungen und Seminaren nicht nur dem nach wie vor lebendigen Interesse der Studenten an fundamentalphilosophischen Fragestellungen entsprochen, sondern auch ihr Denken entscheidend angeregt; hiervon zeugt die Vielzahl überdurchschnittlich qualifizierter Arbeiten, die er betreut hat.
In den letzten Jahren hat Theunissen "eine fortschreitende Austrocknung von Bewußtseinsdimensionen" konstatiert, ein durch Denkverbote und Ressentiments geprägtes Klima, das nicht nur die außeruniversitäre Öffentlichkeit prägt, sondern auch die akademische Philosophie. Vieles spricht dafür, daß diese Diagnose zutrifft. Nicht nur deshalb bleibt zu hoffen, daß sich Michael Theunissen nach seiner Emeritierung nicht ganz aus der Universität zurückziehen wird.

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