Der letzte der Großen Männer des OSI

Zum Tod Ossip K. Flechtheims


Mit ihm ist der letzte der Großen Alten Männer des Otto-Suhr-Instituts, neunundachtzigjährig, gestorben. Es genügt nicht, lange in einer Institution tätig gewesen zu sein (Flechtheim hat seit 1952 am Aufbau der Politikwissenschaft in Berlin mitgewirkt), es genügt nicht, ein großes Oeuvre zu hinterlassen, um zu den Grand Old Men gezählt zu werden. Hinzukommen muß, was Flechtheim auszeichnete: das über bloße Analysen hinausgehende konstruktive Denken im wissenschaftlichen Werk - die Unangepaßtheit im Umgang mit den Mächtigen und die Güte im Umgang mit KollegInnen und Studierenden.
So war es kein Zufall, daß Ossip K. Flechtheim Ende des Zweiten Weltkriegs, noch in den USA (wohin die Nazis ihn und seine Frau zwangen zu fliehen), im Blick auf die großen offenen Zukunftsfragen, die politikwissenschaftliche Disziplin der "Futurologie" erfand, deren Hauptzüge er in dem gleichnamigen Werk - einem seiner wichtigsten - darlegte. Noch heute eine selten eingelöste Herausforderung an die gesamte Politologie. In Flechtheims Nachfolge habe ich zumindest versucht, diesen "Auftrag" anzunehmen: daß kritische Analyse steril bleibt, wenn sie sich nicht der aus ihr folgenden Aufgabe stellt, realutopische, futurologische Alternativen zu entwickeln.
Meine Berufung auf "seinen" Lehrstuhl war eine Dokumentation dieser hochgradigen sachlichen Übereinstimmung. Aber die in dreißig Jahren sich intensivierende Beziehung hatte noch eine andere Qualität: Zuneigung. Die nicht konventionelle, sondern ganz von innen kommende Freundlichkeit seines Wesens wird vielen, wie mir, in starker Erinnerung bleiben. Ich bewunderte diesen Wesenszug Flechtheims um so mehr, als er mir abgeht: sein irenisches, Andersdenkende nie zornig und scharf beurteilendes Wesen. Bei Flechtheim findet sich weder in seiner politischen Praxis noch in seiner Theorie eine unversöhnliche Haltung, wie sie sich so häufig zur Selbstbestätigung linker Theorie und Theoretiker zeigt. Ganz im Gegenteil bleibt selbst Kritik bei Flechtheim friedliebend, ja fast therapeutisch tolerant und verständnisvoll, - im tiefsten Sinne gewaltfrei.
Dies gilt vor allem für seine Vorschläge zur politischen Aktion und konkretisiert sich in seiner Theorie und Politik aktiver, auf keine objektiven historischen Prozesse, keine revolutionären Kraftakte vertrauenden, demokratisch-sozialistische Gesellschaftsgestaltung. Sie stützte sich vielmehr auf sorgfältige, illusionslose Zukunftsbeobachtung und -prognose, Zielfindung und Zukunftsplanung. In diesem Sinne sollte eine an Freiheit, Gleichheit und Solidarität orientierte Futurologie an die Stelle der irreleitenden marxistischen Geschichts-Gewißheit treten. Daraus erwuchs dann auch Flechtheims Plädoyer für den demokratischen Weg und für die Strategie der gewaltfreien Reform zur Erkämpfung einer gewaltfreien Gesellschaft der Freien und Gleichen. Flechtheim versuchte, selbst überzeugten Marxisten klarzumachen, daß sozialistische Gewalttheoreme nicht die einzige logische Konsequenz marxistischen Denkens sein müßten. Aber er trug seine Positionen nie mit erhobenem Zeigefinger vor, entschieden, aber nie apodiktisch, eher fragend, als Gesprächsangebot: Sollte man nicht...?! Kraftworte lagen ihm fern.
In diesem Sinne hat er ein sehr nüchternes, keineswegs euphorisches futurologisches Resümee für die Linke formuliert: "Der Sozialismus ist identisch mit einer Synthese von demokratischer Selbstbestimmung, solidarischer Weltplanung und kulturellem Pluralismus." (Flechtheim verlangte immer ein globales statt eines europozentrischen Sozialismuskonzepts.)
Eine bewundernswerte Leistung der späten Jahre des Lehrers und Freundes darf am Ende nicht ungenannt bleiben: Die unglaubliche publizistische und politisch-pädagogische Aktivität, die Ossip K. Flechtheim auch nach seiner Emeritierung entfaltet hat - sei es durch Bucheditionen, Mitarbeit bei den Grünen, Teilnahme an Seminaren im OSI, Reden auf Kongressen oder auch durch schlichte Anwesenheit bei ihm wichtigen Veranstaltungen.
Fritz Vilmar


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