Kann das Internet ein Ersatz für die Lehre sein?

Die Sprachlosigkeit der Informatiker


Vermutlich tauchten in Folge jeder der bahnbrechenden Entwicklungen in der Geschichte der Informationsverarbeitung (Schriften, Buchdruck, Textverarbeitung) revolutionär wirkende Schlagzeilen auf, wie "Lehrer werden überflüssig" oder aktuell "Computer ersetzen Lehrer". Bestärkt wurden solche Thesen in den letzten Jahren durch die Idee des programmierten Lernens.

Sie übersehen völlig, daß Lernen in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen stattfindet. So läßt sich "mediales Lernen" vom "Lernen in sozialer Interaktion" unterscheiden. Es ist erschreckend, wenn selbst im Ausbildungsbereich erfahrene Persönlichkeiten damit rechnen, daß die Lehre an Universitäten in der heutigen Form in wenigen Jahren überflüssig sein wird, weil ja nahezu alle universitären Lehr-ziele mittels der neuen Medien erreichbar sein werden. Der Wunsch nach diesem Zustand mag aus finanzpolitischen oder kommerziellen Interessen berechtigt sein, oder durch die Erfahrung frustrierter Studierender. Er ist aber unrealistisch. Die neuen Medien können nur das mediale Lernen unterstützen. Das tun sie auch in ausgezeichneter Weise und deshalb darf keine Bildungseinrichtung darauf verzichten. Dennoch stehen selbst die raffiniertesten Multimedia-Systeme noch wesentlich näher beim klassischen Medium Buch als beim personal Lehrenden. Daran ändern auch alle Ansätze nichts, Elemente des interaktiven Lernens in Medien zu integrieren, wie es in zahlreichen Formen von computerunterstütztem Lernen erfolgt ist. Charakteristisch dafür ist eine Überschrift über einen Bericht von der letzten Online Educa: "Ernüchterung statt Goldgräberstimmung".

Mit großem Forschungsaufwand wird heute daran gearbeitet - auf neuen Entwicklungen der Informatik und der Kognitionspsychologie aufbauend - wesentliche Komponenten des sozial interaktiven Lernens in intelligente Tutorsysteme zu integrieren. Hier gibt es auf bestimmte Stoffe und Ziele eingeschränkte Erfolge. Die Kosten jedoch, z.B. für ein System vorlesungsbegleitender ºbungen sind astronomisch. Dieser Aufwand verbietet kurzfristige Aktualisierung solcher Systeme oder deren einfache Anpassung an eine andere Lehrum-gebung. Das sind aber genau die bei personalen Vorlesungen und ºbungen möglichen Optionen. Wesentlich gravierender noch bezüglich der Erwartungen an die neuen Medien erscheint mir das Folgende: in meiner Umgebung an der FU beobachte ich zunehmend, bestätigt durch Kollegen, eine Schwäche vieler Studierender, Inhalte der Informatik geeignet zu artikulieren. Diese Studierenden sind aber beileibe nicht alle gleichzeitig schlechte Informatiker in dem Sinne, daß sie nicht gut programmieren, Systeme analysieren oder generell ausgezeichnet mit Rechnersystemen arbeiten könnten. Sie können jedoch nicht kompetent über ihre Voraussetzungen, Methoden oder Ergebnisse sprechen. Diese Fähigkeit gehört aber zu den wichtigsten allgemeinen Ausbildungszielen. Eine Ursache könnte in der Zunahme medialen Lernens und in der Abnahme sozialen interaktiven Lernens liegen, auch schon ohne Multimedia.

Die Studierenden haben mit guten Gründen erkämpft, daß zu Vorlesungen Skripte herausgegeben werden. Eine nicht erwünschte Folge ist, daß viele nicht mehr an Vorlesungen teilnehmen und damit auch die Anregungen zu Interaktion versäumen. Ich befürchte, daß diese "Sprachlosigkeit" durch verstärkten Gebrauch von Multimedia-Systemen zunimmt. Solche Systeme und weltumspannende Datennetze sind notwendig, weil immer mehr Lernende auf große Wissenspeicher zugreifen wollen und müssen, mit geeigneter technischer und logistischer Unterstützung. Sie können aber nicht den Bedarf an Lernen in sozialer Interaktion verringern, eher umgekehrt. Aussage eines Studenten: "Im Internet erfahre ich eigentlich nie genau, was ich wissen will." Das Internet ist großartig, wenn man weiß, wie man es sinnvoll benutzt und darüber kommuniziert. Als Krabbelkiste, in der man sich zu Suggestivkäufen verleiten läßt, ist es aber nur zeitraubend und verwirrend.

Klaus-Dieter Graf

Klaus-Dieter Graf ist Professor am Fachbereich Mathematik und Informatik ud arbeitet dort in der Fachrichtung Informatik in Bildung und Gesellschaft.


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