Ob "Guten Tag" oder "Hallo", ob "Tschüs" oder "Adele", Begrüssung und Verabschiedung gehören eigentlich zum guten Ton. In der letzten Folge unserer Serie "Lernen & Lehren" geht es darum, welche Töne an der Universität angeschlagen werden. Fi(e)s-Dur, meinen viele, recht harmonisch finden es andere. Nachdem die 68er Studentenbewegung sämtliche Begrüssungs- und Verabschiedungs-rituale als reaktionär verurteilte und sie grösstenteils abschaffte, versuchen nun immer mehr Fachbereiche, wieder zeremonielle Mindeststandards zu schaffen.
Am Anfang war die Boltzmannstraße 3: Junge Menschen öffnen mit Mühe die schwere Eingangstür, schleichen an einer Pförtner-Sphinx hinter Panzerglas vorbei und bahnen sich ihren Weg durch Massen von Immatrikulationswilligen, bis sie schließlich zu einer Tür mit der zu ihrem Namen passenden Buchstabenkombination gelangen. "Wer ist hier der letzte?", eine Frage, die Studienanwärter spätestens jetzt parat haben sollten. Nach einer Stunde sind die letzten die ersten ö Sesam öffne dich ö, doch statt dem Schatz der Studienbescheinigung erhält der/die Möchtegern-StudentIn ein Formular samt Wegbeschreibung zum "Ausfüll-Raum" im dritten Stock. Nach dem Ausfüllen heißt es dann wieder warten vor der Buchstabenkombination (Sesam öffne dich), und dann ist es endlich geschafft ö immatrikuliert.
Für die Studierenden ist das der Anfang einer bürokratischen Odyssee durch die Massenuniversität, an deren Ende oftmals nur ein trostloses Prüfungsbüro steht, in dem unbekannte Menschen das langersehnte Abschlußzeugnis aushändigen. "Unbestritten ist der Sachverhalt trostlos", kommentiert der Leiter der Zentraleinrichtung Studienberatung, Hans-Werner Rückert, die Art und Weise, wie Studierende an der Uni begrüßt und verabschiedet werden.
Die Geschichte der Trostlosigkeit begann in den Sechzigern: Mit den Talaren schaffte die Studentenbewegung auch sämtliche Rituale ab, die Studierenden ein Gefühl von Zugehörigkeit zu "ihrer" Uni vermitteln können. "Rituale geben Halt. Das Überbetonen von Ritualen war es nicht, aber gar nichts zu machen, ist es auch nicht", meint der Diplom-Psychologe Rückert und macht gleichzeitig einen neuen Zeitgeist aus: Es gebe ja immerhin Licht am Horizont.
"Was gestern war, das kommt nicht mehr. Ich mußte geh'n, das war nicht schön..." Schön war die Zeit ö froh die Gesichter im Jahre 1959 bei der Zeugnisübergabe in der Wirtschafts- und Sozialwisenschaftlichen Fakultät der FU
Fast alle Fachbereiche bieten mittlerweile Orientierungswochen für die Neuankömmlinge an, und manche veranstalten sogar wieder die von den Revoluzzern so geschmähten Abschiedsfeiern. Der ehemals studentenbewegte Vizepräsident Werner Väth mußte auf einer Diplom-Abschlußfeier der Politologen eingestehen, daß es ihn schon komisch anmute, auf einer Feier zu sprechen, gegen die er vor dreißig Jahren noch gewettert habe. Die Politologiestudenten und -studentinnen scheinen eine angemessene Verabschiedung jedenfalls vermißt zu haben. Rund zwei Drittel lassen sich feierlich ihr Diplomzeugnis überreichen. Weniger begeistert scheinen die Professoren: Peter Grottian, zuständiger Professor für die studentische Fachberatung schätzt, daß letztes Mal nur 20 seiner 120 Kollegen zur Feier im Henry-Ford Bau erschienen.
Während die Politologen im Hörsaal A feiern, lassen die Wirtschaftswissenschaftler alte Traditionen im Audimax aufleben. Nach 25 Jahren feier-freier Zeit initiierten ein paar Studenten, die den unromantischen Weg ins Prüfungsbüro scheuten, 1993 eine Feier für Diplomanden und Promovenden. Nach amerikanischem Vorbild gründeten sie die Ehemaligen-Organisation ECONET, die sich seitdem unter anderem um die ordentliche Verabschiedung der Studierenden kümmert. Bei der Verleihung der Urkunden durch den Dekan ist das Audimax rammelvoll, denn die Wirtschaftswissenschaftler feiern mit Eltern und Freunden. Anschließend begeben sich viele der nach Auskunft von Organisator Ingo Beyritz wohlgekleideten Wirtschaftswissenschaftler ("mindestens Anzug") ins Palais am Festungsgraben, wo für 65 Mark Eintritt "eine Art Ball, eine Feier mit Buffet" geboten wird.
Seit 1993 verabschiedet der Fachbereich Wirtschaftswissenschaft seine Absolventinnen und Absoventen wieder feierlich ö "Anzug sollte schon sein". In Schale geschmissen erschienen die Erfolgreichen denn auch zur Zeugnisübergabe am 21. Dezember im Audimax
"Fetzige Musik" gibt es laut Uta Pfeiffer aus dem Promotionsbüro der Humanmediziner auf der nächsten Doktoranden-Feier. Gefeiert haben die Mediziner selbst in all den Jahren, in denen die anderen Fachbereiche solch konservative Rituale verschmähten. Wer allerdings bei den Medizinern nur mit einem Staatsexamen abschließt, wird ohne Gruß ins Arztleben entlassen, sehr zum Leidwesen der studentischen Beraterin Ruth Kuske: "Das Staatsexamen ist so ein Wisch. Jede Bundesjugendurkunde ist schöner." Ruth Kuske sollte sich vielleicht mal mit der frischgebackenen Publizistin Caroline Walter treffen ö zum gemeinsamen Motzen: "Ich fand das sehr enttäuschend, nach sechs Jahren geht man da hin, jeder holt sein Ding ab, keiner sagt, tschüs, keiner gratuliert, nix."
Carolines Frustration begann allerdings nicht erst im Prüfungsbüro, sondern bereits in den ersten Unitagen. Das Gefühl, daß sich eigentlich keiner so richtig für sie interessiere, setzte sich schon während der Orientierungswoche fest: "Die meisten haben uns erzählt, daß wir mit Publizistik später sowieso Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt hätten."
Motivieren möchte hingegen Peter Grottian, der bei der Einführungsveranstaltung zum Thema Arbeitsmarktchancen für Politologen die Anwesenden bestärkt, zu studieren, was ihnen Spaß macht. Rein formal ähneln sich die Orientierungswochen an allen Fachbereichen.
Organisiert werden sie zumeist von den studentischen Fachschaftsinitiativen. Die Lehrenden stellen ihre Veranstaltungen vor, die Studierenden werden durch Bibliotheken und über den Campus geführt, Erstsemesterfrühstücke verspeist, Mentorengruppen gebildet. Dabei dürften die Wirtschaftswissenschaftler das originellste Modell entwickelt haben: Wer die gleiche Bonbonsorte aus einer Kiste zieht, gehört zur selben Gruppe. Bier statt Bonbons gibt es bei den Germanisten, die Neuberliner durch Szenekneipen führen. Dieser Fachbereich bietet einen weiteren Service: Während beispielsweise Mathematiker und Informatiker nur über die Presse erfahren, daß ihre Brückenkurse schon vor Semesterbeginn anfangen, schicken die Germanisten jedem frisch Immatrikulierten ihr Einführungsprogramm. Dafür ist die Germanistik-Einführungsveranstaltung Pflicht. Hier wird unter anderem die Studienordnung erklärt. Nach der Veranstaltung kann sich jeder den für die Zwischenprüfung notwendigen Stempel geben lassen. "Massentaufe", nennt die studentische Beraterin Andrea Syring das Procedere. Auf "Massenkommunion" allerdings müssen die Germanisten verzichten: Ihr Zeugnis gibt es anonym. Außerdem fehlt der von einer Absolventin vorgeschlagene Zusatz: "Hiermit haben sie alle bürokratischen Hürden genommen. Sie haben sich als extrem streßresistent und frustrationstolerant erwiesen. Die Bürokratie gratuliert."
Brenda Strohmaier