"Wie aber Uebermaß immer schädlich ist, so gilt dies auch vom Lesen, besonders solcher Bücher, die nur der Unterhaltung dienen: hütet euch daher vor der Lesesucht!" Solche Warnungen bekam die Jugend und insbesondere die weibliche noch vor weniger als hundert Jahren mit auf den Lebensweg. Heute wären manche Eltern froh, wenn ihre Kinder überhaupt läsen, statt vor der Glotze zu sitzen - und seien es nur Groschenromane.
Die Argumente gegen das Lesen und gegen das Fernsehen gleichen sich: Glaubte Platon, daß die Schrift das Gedächtnis schwäche, und waren unsere Großeltern überzeugt, daß Lesen die Augen verdürbe, macht heute der Kommunikationswissenschaftler Ulrich Lange schwere physische Schäden bei Fernsehzuschauern aus: Sie mutieren zu Couch-Potatoes: "Insbesondere klagen die Frauen, daß ihre Männer zu lange vor dem Fernseher sitzen und sich der Kindererziehung entziehen. Die Kinder klagen, daß sich ihre Eltern immer weniger mit ihnen unterhalten, und umgekehrt werfen die Eltern ihren Kindern vor, daß sie vor ihnen ans Fernsehgerät fliehen." Lange prophezeit jedoch, daß der Leidensdruck so hoch wird, daß die Menschen langfristig dem Fernseher den Rücken kehren und sich anderen Freizeitaktiviäten widmen werden.
Ganz anders geht der Literaturwissenschaftler Hartmut Eggert an die Frage heran. Den Wissenschaftler ärgert, daß es bei solchen Debatten gar nicht um die Inhalte geht, sondern um das Medium an sich: "Ob jemand einen Porno sieht oder liest, ist eigentlich egal. Heute gilt Lesen an sich als gut und Fernsehen als schlecht". Spannender, als das Fernsehen gegen das Lesen aufzurechnen, findet es Eggert, der seit den siebziger Jahren Leseforschung betreibt, nach den qualitativen Veränderungen von Medieninhalten und Mediennutzung zu fragen. Das Fernsehen, für den Großteil der Leute noch das meistgenutzte Medium, beeinflußt und verändert auch die Buchkultur ("Das Buch zur Serie"). So suchen Leser bei der Lektüre eher das, woran sie als Zuschauer gewöhnt sind, z. B. den Thriller.
Den Kommunikationswissenschaftler Lange kann nicht mal der spannendste Thriller an den Fernseher fesseln - er hat nämlich keinen mehr: "Fernsehen ist langweilig", findet Lange und proklamiert bereits die Post-Fernseh-¥ra: "Wir haben jetzt eine Phase der Bilder durchlebt, und wenn die Bedeutung der Bilder nachläßt, wird die Bedeutung der Sprache, der aufmerksam gehörten Geräusche und des Klangs wieder zunehmen. Sprache ist Denken, und Denken hat seinen ganz besonderen Reiz." Ulrich Lange glaubt, daß sich die Menschen in Zukunft mehr mit multimedialer Lyrik und Poesie beschäftigen werden.
"Ich lese nicht mehr", hört Hartmut Eggert immer häufiger von seinen Studenten. Ein Trugschluß, meint Eggert, denn sie verbinden Lesen immer noch mit ihrer Freizeitlektürephase aus der Pubertät. Tatsächlich lesen sie eher mehr als früher. "Auch Lesen am Bildschirm ist Lesen", stellt Eggert noch mal klar, "die literale Kultur wird immer mehr zur multimedialen Kultur".
Die Entwicklung ist offensichtlich: Viele Lexika gibt es bereits auf CD-Rom, immer mehr Zeitungen werden online angeboten. "Ich glaube aber nicht, daß die Zeit, die wir vor einem Bildschirm verbringen werden, noch zunehmen wird", prognostiziert Ulrich Lange. "Die Zunahme im Multimedia-Bereich wird auf Kosten des klassischen Fernsehens gehen, neue Techniken der Gemeinsamkeit werden die Einbahnstraßen der Massenkommunikation auflösen."
Sollte sich Langes Zukunfts-Szenario bewahrheiten und immer mehr Zuschauer den Fernseher endgültig abschalten, sind dennoch die nächsten Kulturverfallsthesen schon formuliert. Sie reichen von der Kritik an gewaltverherrlichenden Computer-Spielen bis hin zu der Forderung, den Datenstrom des Internets zu kontrollieren, um die Verbreitung von Pornographie und rechtsradikalen Schriften zu verhindern.
Einig sind sich beide Forscher, daß die Folgen der technologischen Entwicklung noch nicht abzusehen sind. Sicher ist, daß Kulturverfallsthesen die Einführung jedes neuen Mediums begleitet haben. Bestimmt gibt es schon Erzieher, die sich nach der Zeit zurücksehnen, als ihre Sprößlinge einfach nur Fernsehen guckten und die ihnen raten:
Hütet Euch vor der Computersucht !
Brenda Strohmaier