Wettkampf war Klassenkampf. Wie für den DDR-Sport der Nachwuchs rekrutiert wurde, beschreibt eine Studentin, die aus dem Wasser stieg.


"Ich war Weltklasse, war Reisekader"


"Schneller, höher, weiter" sollten die 'Staatsamateure' sein. Denn es galt, "auf dem Exerzierfeld des Klassenkampfes, die Überlegenheit des sozialistischen Gesellschaftsmodells vor der Weltöffentlichkeit zu beweisen und zur allseitigen Stärkung der DDR beizutragen". Leistungssport in der DDR hieß mehr als nur sportliche Höchstleistungen, er war politisches Mittel und mit Sicherheit der einzige Bereich, in dem die DDR das vielbeschworene "Weltniveau" tatsächlich erreichte. Wie konnte ein so kleines Land (mit nicht mehr als 17 Millionen Einwohnern) so viele Medaillen erringen? Medaillenwunder DDR? Einfache Frage, einfache Antwort? Nein. Es war viel komplizierter und geheimnisumwoben - das zentralistische und in sich perfekte Sportsystem der DDR.

Was wußte ich damals schon vom sogenannten einheitlichen Sichtungs- und Auswahlsystem (ESA), als ich mit fünf Jahren schwimmen lernte. Konnte man wissen, daß sich sogar Volkspolizisten an der Talentsuche beteiligten? Die Diener des Staates "sprachen gr oßgewachsene Jugendliche auf der Straße an und fragten sie nach ihrer Bereitschaft in einen Sportclub zu gehen", schreibt Manfred Ewald, ehemaliger Präsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) der DDR, in seinem Buch "Ich war der Sport". "So lernt en wir die Mehrzahl der Kinder unseres Landes mit bestimmten körperlichen Merkmalen kennen", erinnert sich Ewald noch heute gern. Ein- bis zweimal jährlich wurden an den Schulen Sichtungen durchgeführt, "dazu gezielte Größensichtungen in der 7. Klasse" .



Karen König im Alter von 11 Jahren: täglich fünf Stunden Schwimm- und Krafttraining

Niemand sollte durchs Netz fallen, die 'Kader' - sowohl Leistungs- als auch Reisekader - von morgen wurden teilweise schon im Kindergarten ausgewählt. Besonders frühzeitig suchte man nach Kindern für das Eiskunstlaufen, Wasserspringen und Turnen. 'Unv erdorben' und nicht zu dick wollte man sie haben. Diese Kinder wurden dann meist aus den Familien genommen und mit Schuleintritt in das der Sportschule angeschlossene Internat gesteckt. Man wußte ja: "Die DDR war ein sportbegeistertes und sporttreibendes Land."

Ich hatte Glück, noch lernte ich unbeobachtet schwimmen. Ich hatte Spaß daran und wollte weitermachen. Im Alter von sechs Jahren ging ich ins Trainingszentrum. Das hieß, nach der Schule dreimal wöchentlich Training. Ein Netz - DDR-weit - von 2.000 Zent ren dieser Art mit 60.000 bis 65.000 Jugendlichen bildete die Vorstufe zur Kinder- und Jugendsportschule. Mit welcher Freude konnte ich, als ich tatsächlich in der Turnstunde 'gesichtet' und für das Handballspiel begeistert werden sollte, dieses "Ich-bin- schon-beim-Schwimmen" sagen.

Aus den Bezirks- und Kreisspartakiaden (große Sportveranstaltungen in sozialistischen Staaten, die Red.) kamen die 'Talente' in die Sportschulen. Aber der "Delegierung" dorthin ging ein rigides Auswahlverfahren voraus. Die Körpergröße der Eltern beispi elsweise galt als Garant für wirklich geeignete Kinder. Und wer Leistungs- und Gesundheitstests vor den Augen der zukünftigen Trainer bestanden hatte, mußte nur noch eins beweisen: keine bestehenden Westkontakte bzw. Westverwandte. Wahrheitsgemäß leistete n die Eltern ihre Unterschrift. Gleichzeitig verpflichteten sie sich, über alles, was den Sport betraf, Stillschweigen zu wahren.

Eine "planmäßige und minutiös durchorganisierte 'Aufzucht' von Spitzensportlern" sollten die Kinder- und Jugendsportschulen (KJS), die 'Kaderschmieden' ermöglichen. Es waren 'normale' zehnklassige Schulen mit "Abiturteil", mindestens eine in jedem Bezi rk der DDR. Die Klassen waren nach Sportart getrennt. Das Training bestimmte hier von Anfang an den Tagesablauf. Schule war nur Nebensache. "Schulzeitstreckung" war ein geheimes Wort und bedeutete: für ein Schuljahr brauchten die Sportler anderthalb. Aus zehn Schuljahren wurden zwölf.

1979 - ich war zehn - kam auch ich in die Sportschule. Das hieß fortan vier Stunden Schule und fünf Stunden Schwimm- und Krafttraining täglich. Erschöpfungszustände äußerten sich anfangs in scheinbar grundlosen Heulkrämpfen oder aber durch Einschlafen während des Unterrichts. Unser Tag begann um sechs Uhr morgens und endete gegen sieben Uhr abends. Nur das Beste sollten wir haben: doppelte Essensportionen - viel Fleisch sogar Obst - Bananen, Apfelsinen -und Schokolade. Monatlich 60 Mark erhielten die E ltern, um dieses Mehr an Verpflegung zu kaufen.

Wir waren zu viert, zu dritt - unsere Klasse von ehemals vierzehn Schwimmerinnen wurde immer kleiner. Wer keine Leistung mehr brachte mußte zurück an die alte Schule. Niemand kümmerte sich um Schulversäumnisse oder um ein kontinuierliches Abtrainieren .

War das das vielbeschworene "Exerzierfeld des Klassenkampfes"? Oder war der Sport "das marktwirtschaftlich organisierte System der DDR, der einzige Bereich, der dem Leistungsprinzip verpflichtet war"? Nichtolympische Disziplinen brachten keine Nationen punkte, demnach konnten sie auch nicht gefördert werden.

Ich war "Weltklasse", war "Reisekader", hatte Geld auf dem Sperrkonto und war 17 Jahre alt. Schneller, höher, weiter wollte ich nicht mehr. In "Unehren entlassen" hieß es.



Karen König

Karen König studiert seit 1991 an der FU Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Philosophie und Religionswissenschaft. Bis 1987 schwamm sie für den TSC Berlin und gehörte ab 1984 der Schwimmnationalmannschaft der DDR an.


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