Permanente Aufklärung durch Theologie als Wissenschaft

Was ist Wahrheit?


Nicht alle Religionen haben aus sich heraus Wissenschaft entwickelt. Den meisten genügte es, geistige, seelische, technische Mittel einer praktischen Lebensbewältigung zu finden, Erfahrungsweisheit zu sammeln, diese in mündlicher Überlieferung von Meistern zu Schülern, Alten zu Jungen, Eingeweihten zu Neulingen weiterzugeben - freilich sie bald auch schriftlich festzuhalten und immer neu zu kommentieren, um sie so von Generation zu Generation aktuell zu halten. Doch kaum einmal ergab das mehr als Traditionsbewahrung im Dienst religiöser Praxis, jedenfalls nur selten Wissenschaft in einem kritischen und methodenbewußten Sinn.

Anders das Christentum. Es bildete mit der Theologie eine ihm eigene Wissenschaft aus, beschränkte aber deren Gegenstand keineswegs auf einen von anderen isolierten Erfahrungsbereich Religion, sondern schuf sich, im Mittelalter auf universale Erkenntnis von Welt, Mensch und Gott in ihren Zusammenhängen bedacht, die abendländische Universität, um das Gesamte des Wirklichen im Einzelnen, aber auch als Einheit zu durchdringen und zu "erkennen" in doppeltem Sinn, nach damaligen Voraussetzungen "selbstverständlich": das Wirkliche im Lichte Gottes, aber umgekehrt auch: Gott im Lichte des Wirklichen.


In seiner Antrittsvorlesung an der Freien Universität Berlin im November 1957 bestimmte Helmut Gollwitzer, ein Vertreter des radikalen Flügels der Bekennenden Kirche, den Ort der "Theologie im Hause der Wissenschaften" in "Solidarität" mit der "hier zu leistenden Arbeit an der Bestimmung dessen, was Wissenschaft ist".


Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein rangierte Theologie als "erste" aller Fakultäten - dies freilich da nur noch im Sinne einer Respektbezeugung vor ihrer Anciennität im Hause der Wissenschaften; längst haben die anderen Wissenschaften die Prozesse ihrer Emanzipation von der alten Maßgeblichkeit der Theologie, ja von ihr selbst, hinter sich, und ganz neue, der Theologie ursprünglich nie verbundene Wissenschaften beherrschen heute das Bild der Universität.

Um so mehr erstaunt, daß Theologie sich als Wissenschaft weiter behaupten will. Dies hängt mit inneren, geistigen Notwendigkeiten speziell der christlichen Religion zusammen. Ist sie doch unter allen Religionen diejenige, die in ihrem Heils- und Frömmigkeitszentrum Motive für eine permanente Selbstkritik und eine nie abzuschließende Aufklärung entwickelt hat. Mag noch dahingestellt bleiben, ob Jesus von Nazareth zutreffend beschrieben ist, wenn er als Erscheinung einer Selbstkritik des Judentums seiner Zeit gesehen wird - der Apostel Paulus, als erster großer Denker des Christentums nach Jesus, wurde mit Recht "der erste Theologe" genannt. Er hat das christliche Heil in konsequentem Gegensatz zum gnostischen Mythos formuliert und damit den Begriff von "Theologie" erfüllt, den wir Jahrhunderte vor der Entstehung des Christentums, zum erstenmal wohl bei Platon, belegt finden.

Dieser hat in seinem Buch "Politeia"- vom Staat- einem "Städtegründer" im Sinne einer modernen civil religion die Sorge dafür auferlegt, daß nicht von Gottheiten solche Märchen und Geschichten erzählt werden, die schon Kindern schlechte moralische Beispiele vermitteln, vor allem aber überhaupt ein phantastisches geistiges Chaos im religiösen "Überbau" erzeugen: denn das müsse (bei der Beispielhaftigkeit von Religion für alles Leben) verhängnisvolle Wirkungen auf die Bevölkerung einer Stadt und deren geistig-seelische Formung haben. Hier stelle sich eine "theologische" Aufgabe, nämlich die mythische Phantasiewelt moralisch und unter einem Realitäts- und Einheitsprinzip in Ordnung zu bringen.

Damit bekommt "Theologie", noch ehe es sie in diesem Sinne überhaupt gibt, erstens eine Aufgabe in öffentlicher Funktion zugeschrieben, zweitens den Auftrag zur Entmythologisierung und Rationalisierung der geläufigen Reden von Göttern und Gott im Dienst der Schaffung eines mythologiefreien, aufgeklärten öffentlichen Bewußtseins.

Paulus hat sicher Platon nicht gekannt, aber seine Darstellung der Bedeutung Jesu erfüllt dessen Begriff von Theologie - nur daß er sie nicht im Staatsinteresse entwickelte, sondern sogar mit staatskritischem Akzent.

Sein Bemühen, Jesus von Nazareth aus jedem Mythenzusammenhang herauszuhalten, seine Historizität und Humanität zu bewahren und dennoch den universalen Schöpfergott Israels mit dem Wirken und der Bedeutung Jesu eng zu verbinden, zeigt aber, warum für die christliche Religion Theologie und ständige Selbstkritik und Aufklärung auch in wissenschaftlicher Form von innen heraus notwendig schienen.

Im Christentum "erscheint" nicht nur ein Jenseits im Diesseits - ein allgemeiner religiöser Gedanke, der schon als solcher ständig angreifbar und aufklärungsbedürftig ist. Wie das historische jüdische Volk sich auf seinen weltgeschichtlichen Wegen und unter den profansten Bedingungen seiner Existenz von Gott anhaltend geschichtlich begleitet und darin unlösbar an ihn gebunden sah (und bis heute oft noch sieht), so sieht das Christentum das, was es "Gott" nennt, konzentriert bezogen auf den Juden Jesus von Nazareth und diejenigen geschichtlichen Bewegungen, die von ihm ausgegangen sind. Israels und Jesu irdische Geschichte und deren (biblische und außerbiblische) Dokumente sind für das Christentum der "Stoff" für die Religion. Weil diese Dokumente (anders als im Islam der Koran) aber nicht als vom Himmel gefallen vorgestellt werden, sind sie wie Stoff für die Religion, so auch Stoff für immer neue wissenschaftliche Prüfungen, und die Entwicklung moderner historisch-kritischer Forschungsmethoden in den Bibelwissenschaften seit dem 17. Jahrhundert gehört zu den wissenschaftlichen Ruhmesleistungen christlicher Theologie - mit weiter Ausstrahlung in andere wissenschaftliche Literaturforschung.

Die historische Bibelkritik vollzog sich vor allem als permanente Dogmen- und damit Kirchenkritik. Sie nimmt in der Neuzeit den Rang ein, den im Ursprung des Christentums die Mythenkritik hatte: als ein Akt der Aufklärung vor überholten Formen des religiösen Bewußtseins und der öffentlich formulierten und praktizierten religiösen Wirklichkeitswahrnehmung und Wahrheitsfindung. Als Dogmenkritik wirkte diese wissenschaftliche Theologie vor allem auch als Kritik an der Kirche, ihrem universalen Wahrheitsanspruch, vor allem auch: ihrer religiösen Definitionsgewalt. Seitdem arbeitet wissenschaftliche Theologie nur noch selten als Apologie des kirchlichen Glaubens, viel mehr als Konkurrentin zu Wahrheitsansprüchen kirchlicher Autorität, nicht weniger auch: von Erstarrungs- und Phantasieformen eines allgemeinen religiösen Bewußtseins. Sie betreibt das methodisch-reflektiert, das heißt auch in ständigem Austausch mit den Weiterentwicklungen des wissenschaftlichen Wissens. Theologie steht für permanente, nicht einmalige Aufklärung.

Allerdings betreibt sie Mythen-, Dogmen- und Kirchenkritik nicht "von außen", sondern - das macht ihre wissenschaftliche Schärfe aus - als Selbstkritik der Kirche und der ihr eigenen Voraussetzungen, stellt sich nicht gegen die Kirche, sondern gegen deren Selbstmißverständnisse und Selbstverfehlungen.


Der Autor, Friedrich-Wilhelm Marquardt, ist Nachfolger Gollwitzers auf der Professur für Systematische Theologie an der FU. Wesentliche Elemente seiner Arbeit sind der Entwurf einer hmehrbändigen Dogmatik im christlich-jüdischen Verhältnis und die Leitung der von Gollwitzer 1961 gegründeten Arbeitsgruppe "Juden und Christen" beim Deutschen Evangelischen Kirchentag


Im 20. Jahrhundert gehörte dazu vor allem die Assimilation der Kirchen und ihrer Theologien an das bürgerliche Bewußtsein, dessen Ethos, auch dessen Wissenschaftsideologie. Spätestens mit dem Heraufkommen und dem Durchbruch des Nationalsozialismus wurde sie gefährlich und suspekt in der Widerstandslosigkeit, zu der diese Angleichung und Zurverfügungstellung der christlichen Tradition für die Nazi-Bewegung führte. Es war eine Schule akademischer Theologie - die der sogenannten Dialektischen Theologie -, die aus inneren theologischen Einsichten einen kirchlichen Minderheiten-Widerstand erzeugte sowohl gegen die heidnisch-christlichen Verbrämungen des Nationalsozialismus als auch gegen die Anfälligkeiten der Kirchen dafür.

Zur Mythen-Dogmen-Kirchenkritik trat nun auch wieder - wie schon in der Reformationszeit - eine politische Selbstkritik von Theologie an sich selbst und der Kirche. Sie setzte sich nach 1945 vor allem als Kritik der hartnäckigen judenfeindlichen Tradition des Christentums fort, die unmittelbar zur Vorgeschichte jenes Antisemitismus gehört, der in Auschwitz seine verbrecherische Konsequenz hatte.

Dabei entwickelt Theologie weit über eine Selbstkritik ihrer fehlenden Widerstandspraxis hinaus heute eine historische und systematische Kritik des Antijudaismus, die geschichtlich der christlichen Lehre bis an ihre Wurzeln im Neuen Testament, systematisch aber bis in die Substanz ihres Verständnisses von Gott, Welt und Mensch überhaupt geht und von innen her eine weitere Begründbarkeit und Haltbarkeit von Theologie und Christentum in Frage stellt. Es ist nicht von vornherein auszuschließen, daß Theologie damit an einer Selbstdestruktion des christlichen religiösen Glaubens mitwirken könnte, mindestens an dessen überlieferten Inhalten und Gestaltungen. So ließe sich Theologie heute womöglich als eine Wissenschaft beschreiben, die kompetenter, weil betroffener an der Aufhebung ihrer eigenen Voraussetzungen arbeitet, als dies jeder Kritik von außen her möglich wäre. Sie wäre darin aber wirklichkeitsgerecht und Beispiel für ein Wissenschaftsethos, das radikale Selbstinfragestellung methodisch zu betreiben wagt.

Abgesehen davon jedoch bewahrt die Theologie in ihrem kritischen Vollzug Fragen, die das historische Wesen der zu einer Universität vereinigten Wissenschaften einst ausmachten, im Vollzug der Differenzierung wissenschaftlicher Methoden jedoch jede Allgemeinbedeutung und Verbindlichkeit verloren zu haben scheinen: die Frage nach der Wahrheit. Die Frage nach dem Sinn. Die Frage nach der Zukunft: den umfassenden Horizonten dessen, was "wirklich" heißen mag. Sofern sie überhaupt unter "Gott" noch etwas rational Aussagbares ansprechen kann, fragt sie eben damit nach der Wahrheit, dem Sinn und der Zukunft der Wirklichkeit. Religion stürzt Theologie in diese Fragen und hält sie wach. Theologie aber gibt sie weiter an die anderen Wissenschaften.

Friedrich-Wilhelm Marquardt


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