1956, nach der Niederschlagung des Volksaufstandes kommt ein ungarischer Flüchtling nach Wien und sucht ein dauerndes Exil. Daß er in Österreich, das schon viele Flüchtlinge aufgenommen hat, nicht bleiben könne, ist ihm von de n Behörden sofort nach dem Grenzübertritt gesagt worden. Nun nennen sie ihm von Jugoslawien über die Bundesrepublik und die Schweiz bis zu Kanada und Australien alle möglichen Zufluchtsländer, die sie dem Flüchtling auf einem bereitstehenden Globus auch zeigen. Dieser dreht selbst an der Erdkugel und fragt dann nach einer kurzen Bedenkpause: "Haben Sie keinen anderen Globus?"
Dieser Witz - er betrifft noch Millionen heutiger Flüchtlinge - scheint nur politische und überhaupt keine religiösen Konnotationen zu haben. Jacob Taubes (1923 - 1987), Religionssoziologe an der FU, erzählte ihn jedoch, um die apo kalyptische Situation des Propheten Daniel zu erläutern: Es ist die Geschichte der exilierten Kinder Israels in Babylon, das heißt eigentlich die Situation der Juden unter der hellenistischen Fremdherrschaft des Diadochen Antiochus Epiphanes, d ie ihre Kultur und Religion bedrohte. Und diese Situation, die den "heiligen Rest" der (Gott-)Treuen immer mehr zu Exilierten im eigenen Land machte, war derartig apokalyptisch, daß ihnen Zeit und Welt insgesamt zur Fremde wurden und sie deshalb ein e "neue Erde" erstrebten - wie der ungarische Flüchtling 1956 in Wien, der jedoch ganz ohne religiöse Implikation.
Es sei denn, religiöse Situationen seien gar keine anderen als solche "Grenzsituationen". Der von Taubes nicht zufällig hoch geschätzte Günther Anders meinte das, als er die "atomare Situation" als "apokalyptische ohne Reich", d.h. ohne Erlösungsmöglichkeit bezeichnete. Und Taubes, ein mit Daniel groß gewordener Ostjude, wandte sich während seines Studiums, das der Rabbinerausbildung folgte, zusätzlich der Gnosis zu, nach der der Mensch ontologisch ein Exu lant (Verbannter) ist. Als Fremder in seinem Geburtsort Wien, am Schul- und Studienort Zürich, auch später in Paris, Jerusalem, New York und Berlin war er existenziell zum Gnostiker geworden, zumal er sein Schicksal nicht idiosynkratisch verste hen konnte. Vielmehr mußte er es als (über-)repräsentativ für seine Epoche erleben.
Taubes' Zeitgefühl war bestimmend das der "Frist"; er lebte, wie Anders, in der Erwartung eines sicheren und katastrophischen Endes. Über die "Sinnfülle" einer solchen Erwartung kann sicher gestritten werden, kaum aber darüber, da&s zlig; nur Texte wie die des Daniel (oder der Johannes-Apokalypse) theologisch vorweggenommen haben, was heute menschenmöglich ist: der "Globozid" (Anders).
Sakrale Texte können generell profaner Politik Bilder und Argumente liefern, weil sie ihrerseits mit ihren politischen Konnotationen ihren "Sitz" im soziokulturellen Leben haben. Das ist nicht nur die Sicht religionskritischer Revolutionäre g ewesen, sondern auch die der durchaus konservativen "Religionsgeschichtlichen Schule".
Um ein anderes und gleichfalls hochaktuelles Beispiel heranzuziehen: Wie die Buchstabengruppe "I. N. R. J." zu interpretieren war oder ist, wird sich nie wirklich entscheiden lassen. Aber jeder, der irgendein Kruzifix mit Verstand anschaut, kann nicht übersehen, daß (neutestamentlichem Zeugnis entsprechend) zu Häupten des gekreuzigten Christus steht: "Iesus Nazarenus Rex Judaeorum". Ob zu Recht oder zu Unrecht, Jesus von Nazareth wurde hingerichtet wegen einer (angeblich) beanspruchten Königswürde, als (vermeintlicher) Aufrührer gegen jüdische und römische Autoritäten.
Unbeschadet dessen werden nur wenige Jahrhunderte später die römischen Kaiser und ihre Nachfolger im Zeichen dieses christlichen Kreuzes "zu siegen" beanspruchen. Noch die kroatischen, vom Vatikan unterstützten Ustascha-Faschisten schwor en vor einem Altar, auf dem Dolch und Revolver zu Füßen eines Kruzifixes lagen. Ich erinnere daran des jugoslawischen Bürgerkriegs wegen, der auch ein Religionskrieg ist, zugleich aber wegen der bayerischen "Kruzifixokratie" und der genere llen Kreuzzugsmentalität eines jeden christlichen Fundamentalismus, den man im katholischen Bereich besser "Traditionalismus" oder "Integralismus" nennen würde.
Man kann einfach nicht mehr übersehen, daß es neben islamischen auch christliche und jüdische Fundamentalismen gibt, ganz davon abgesehen, daß der Begriff "Fundamentalismus" zur Kennzeichnung protestantischer Biblizisten der US-am erikanischen Jahrhundertwende geprägt wurde und auf "Moslem-Brüder" unterschiedlicher Art nur analogerweise angewendet werden kann.
Politischer Fundamentalismus ist im 20. Jahrhundert das eine. Fundamentalistische Politik ist das andere, wenn sie auch durchaus mit ersterem konvergiert.
Unheilige Allianz für den "heiligen Krieg"
Dem noch kindlichen Rudolf Höss, einstmaliger Auschwitz-Kommandant, wird von einem Offizier der noch existierenden preußischen Armee eingetrichtert, daß seine "Religion" Deutschland zu sein habe. Hitler schließlich, der Berlin na ch dem "Endsieg" in Germania umbenennen wollte, sprach, so auf dem "Reichsparteitag" von 1936, über dieses Deutschland, seine Partei(genossen) und sich selbst in den gemeinschaftsmystischen Bildern, die er im "Hohepriesterlichen Gebet" des Johannes- Evangeliums (Joh. 14-17) vorgefunden hatte.
Der Tübinger Religionshistoriker Hubert Cancik hat das auf eindrückliche Weise gezeigt, indem er seine (auch vom hiesigen Religionshistoriker Carsten Colpe hochgeschätzte) bibelwissenschaftliche Kompetenz zeitgeschichtlicher Forschung zu gute kommen ließ: einer "Religionspolitologie", die leider im Kanon wissenschaftlicher Disziplinen bis auf weiteres nicht vorgesehen zu sein scheint. Religiöse Kenntnisse sind meiner Erfahrung nach Mangelware unter Sozialwissenschaftlern, ein h öherer Analphabetismus bestimmt die Szene, wie bei jenem sehr einflußreichen Professor, der auf dem vorletzten Soziologentag den Beginn des Johannes-Evangeliums mit dem der Genesis verwechselte und sich dadurch, von seiner fragwürdigen In terpretation der Johannes-Stelle abgesehen, unfreiwillig des Antijudaismus schuldig machte: Einmal mehr sollte der "abendländische Logozentrismus" ein jüdisches Erbteil sein.
Klar ist, wer die Religionen kaum kennt, kann sie nicht zureichend kritisieren, ihnen aber auch nicht die Kritik abgewinnen, die in ihnen selbst und teilweise ganz vorzüglich enthalten ist: nicht zuletzt jener prophetische Protest, der ein wirklic hes und provokatives Erbe der jüdischen Bibel darstellt. Ich verweise stellvertretend auf das - u.a vom Religionsphilosophen Klaus Heinrich inspirierte - Buch "Kassandra und Jona" des Paderborner Bibelwissenschaftlers Jürgen Ebach Richard Faber
Der Soziologe Richard Faber ist Privatdozent am Fachbereich Philosophie- und Sozialwissenschaften I. Er konzipierte die Ringvorlesung "Politische Religion - religiöse Politik" im Sommersemester '95.