Ein persönlicher Abschiedsbrief von Gerd Mattenklott zum Tod von Karsten Witte

Am strengsten mit sich selbst


Der Filmwissenschaftler Karsten Witte starb am 23.10.1995


Ich möchte den Tod eines Freundes anzeigen: Karsten Witte ist am 23. Oktober - nicht unerwartet, aber niederschmetternd - an den Folgen von Aids gestorben.

1944 in Perleberg (Mark Brandenburg) geboren, nach einem vorwiegend literaturwissenschaftlichen Studium in Frankfurt am Main jahrelang Lehrbeauftragter für filmwissenschaftliche Studien an der dortigen Universität, lebte er seit 1979 in Berli n, zunächst als "freier Autor", dann als beamteter Professor für Filmwissenschaft an der FU, Gott sei Dank, ohne deshalb weniger frei als Autor zu sein. Die Universität hat Glück mit diesem Arrangement gehabt. Sie hat den Verfasser meh rerer Bücher zur Filmgeschichte und -theorie, den Herausgeber der Schriften Siegfried Kracauers und den Übersetzer, den prominenten Filmkritiker der Neuen Rundschau und der Zeit berufen, und sie hat gratis - vielleicht sogar ungewollt? - einen e benso eigenwilligen wie konsequenten, geradlinigen wie unverwechselbar individuellen Mann gewonnen, einen wirklichen Forscher und Lehrer, dessen Lebenszeit auf empörende Weise zu kurz bemessen war. Niemand trägt Schuld daran, und wir Überle benden dieses Aids-Kranken haben bei diesem Überleben keinerlei Verdienst und Würdigkeit.

Karsten Witte war ein sehr bürgerlicher Mensch mit Tugenden, die man früher wohl preußisch genannt hätte: pflichtbewußt, gewissenhaft, zuverlässig. Er konnte streng sein, wenn jemand aus Ignoranz und allzu leichtsinnig M einungen und Urteile zum besten gab, vor allem, wenn sie auf Kosten anderer gingen. Nicht erst als akademischer Lehrer reagierte er mit Mißmut, häufiger freilich noch mit Ironie auf Cineasten, die mehr Filmtheorien als Filme kannten, auf German isten, die kein Deutsch, Übersetzer, die keine Fremdsprache richtig beherrschten. Am strengsten ging er in diesem Punkt mit sich selbst um, dem Bild entsprechend, das er von sich hatte.

Ein Bürger, der er war, muß er sich selbst wohl zum größten Skandal geworden sein, als er merkte, daß er neben den Frauen, die bis in seine letzte Lebenszeit seine Freundinnen wurden, den Männern als "Spezies" verfallen war. Er gehörte einer Generation an, die schwerer an dieser Unordnung zu tragen hatte als spätere. Seine erotischen Anfänge datieren freilich auch noch in die Adenauer-Zeit, in der mehr Schwulen der Prozeß gemacht wurde als währ end des Faschismus. Sprachlos in der Subkultur unterzutauchen, haben Selbstachtung und ein rebellisches Temperament ihm verboten, die auch in diesem Punkt auf das Bürgerrecht der geschützten "privacy" pochen wollten. So gehörte er zu den ni cht allzu vielen seines Alters, die mit einer gewissen Verwegenheit ihre akademische, ja öffentliche Reputation aufs Spiel setzten, indem sie den persönlichen Skandal sexualpolitisch zu einer konsensfähigen Raison zu bringen versuchten. Kar sten Witte war Zeit seines bewußten Lebens ein loyaler Teilhaber der schwulen Emanzipationsbewegung, auch noch als sein öffentliches Renommee als Experte der Filmwissenschaft ihn zum Opportunismus hätte verführen können. Wie tr&o uml;stlich, einen Mann zu finden, dem nicht der hysterische Karrierismus von Möchtegern-Akademikern das Rückgrat gebrochen hat. Es ist immer riskant, die öffentliche Würdigung eines Menschen an die Gründe persönlichster Sch&a uml;tzung zu knüpfen. Alles andere wäre aber in diesem Fall künstlich. Karsten Witte war - neben seinen vielen öffentlich vertretbaren Tugenden - ein Freund. Ich will sagen, was ich damit meine: Er nahm Interesse an einer Sache, von de r ich erzähle und über die ich Widerspruch herausfordere. Er hört sich das an; über Wochen: Er schickt mir Lesefrüchte, Notizen, Exzerpte: mit kaum einem Kommentar, d.h. ohne mich zur Stellungnahme zu nötigen. Wenn wir uns tr effen, sage ich meine Meinung, nicht die seine. Ich muß nicht fürchten, seine Sympathie zu verlieren; endlich einmal nicht! Stattdessen bestätigt er mich, versorgt mich mit Argumenten, ohne sie zu übernehmen, weil er Lust an der Versc hiedenheit unserer Ansichten hat. Auf diese Weise hat er geschrieben, übersetzt, herausgegeben: für mich, für andere. Vielleicht hat er bei seiner Arbeit überhaupt in erster Linie an Freunde gedacht: nicht an diese oder jene, sondern a n die Freunde von Shakespeare, Melville und Billy Wilder, von Bresson, Lubitsch und Fassbinder, über die seine Arbeiten gehen. Ich habe keinen Menschen gekannt, der zuverlässiger gewesen wäre in seiner Fähigkeit zur Freundschaft, keine n mit weniger Eigennützigkeit. Es war wohltuend, sich auf seine Höflichkeit, seine Konzilianz und seine Hilfsbereitschaft verlassen zu können. Wir waren uns sehr, wir waren uns herzlich fremd. Doch muß man sich nicht verstehen, um sic h zu mögen.

Sein letztes Buch über die Filmkomödie im Dritten Reich mit dem Titel "Lachende Erben, Toller Tag" - im Frühjahrsprogramm dieses Jahres veröffentlicht - brach Karsten Witte aus "außerwissenschaftlichen Gründen", wie er sc hreibt, als Fragment ab. Es schließt mit einem Zitat aus Shakespeares Komödie "Ende gut, alles gut". Zwei Intellektuelle unterhalten sich.

"(Lafeu:) Man sagt, es geschehn keine Wunder mehr, und unsere Philosophen sind dazu da, die übernatürlichen und unergründlichen Dinge alltäglich und trivial zu machen. Daher kommt es, daß wir mit Schrecknissen Scherz treiben, und uns hinter unsre angebliche Wissenschaft verschanzen, wo wir uns vor einer unbekannten Gewalt fürchten sollten.

(Parolles:) In der Tat."

Karsten Witte hat Gedichte geschrieben. Sie sind in den Akzenten, in der Neuen Zürcher Zeitung und in den manuskripten veröffentlicht, ehe sie im Zürcher Arche Verlag unter dem Titel "Laufpaß" erschienen.


Nachruf

Ich bin nicht für und wider dich
muß nicht nach deinem Wort
ein helles Herz und dunkles Eingeweide
als Fleck der Hoffnung lesen.

Eins und doppelt warst du für dich
ein Mann in sich selbst getrennt
Vater der anderen und Kind
eines verwünschten Lebens.

Deine Jungen rasen sonntags
in Rudeln am Friedhof vorbei
keine Gefäße der Verehrung
moderne Zeiten schlagen sie tot.

Hier liegst Du ruhig am Rande
umringt von Bildern und Schriften
im Namen der Mutter
auf deinem liegt Erde.

Karsten Witte


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