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Den Marlene-Dietrich-Platz erleben

Ankunft

Bisher wurde geklärt, auf welche Weise Menschen zum Potsdamer Platz gelangen, welche Perspektivwechsel mit der Ankunft verbunden sind und wie sich die Beziehungen zur Umwelt im Verlauf des zum Potsdamer Platz Kommens wandeln. Der eigentliche Ort, um den sich diese Arbeit dreht, ist jedoch noch nicht erreicht – die letzten, bis zur Ankunft am Marlene-Dietrich-Platz notwendigen Schritte fehlen noch. Sie durchqueren das Territorium des unter der Ägide von Renzo Piano entworfenen Quartiers DaimlerChrysler und enden auf dem auch als Piazza bezeichneten Marlene-Dietrich-Platz. Wie auf Karte 1 zu sehen, lässt sich der Marlene-Dietrich-Platz theoretisch aus allen Himmelsrichtungen erreichen.


Karte 1

Karte vom Quartier DaimlerChrysler, mit Pfeilen, die die Zugangsmenge der jeweiligen Wege symbolisieren

Zugang zum Marlene-Dietrich-Platz. (Die Karte ist aus verschiedenen Karten und Fotografien zusammengestellt.)


Ich habe diese Karte aus zwei Gründen ausgearbeitet. Einerseits um die Positionen der verschiedenen Gebäude zueinander anschaulicher zu machen. Auf dieser Karte wird deutlich, wie sich die Gebäude um den Platz gruppieren und wie die Wasserflächen und Kanäle verlaufen; beides Aspekte, die ich auf Fotos schlecht einfangen konnte. Andererseits um durch die in dieser Karte konstruierte Abstraktion eine plastischere Darstellung des Besucherzustroms zum Marlene-Dietrich-Platz zu erreichen. Die Pfeilstärke bildet die ungefähre Menge der aus der jeweiligen Richtung kommenden und gehenden Menschen ab. Ich habe keine genaue Zählung vorgenommen, denn der Aufwand für eine methodisch saubere Zählung und statistische Auswertung (Zählen zu verschiedenen Tageszeiten und an verschiedenen Wochentagen etc.) wäre im Verhältnis zur Bedeutung des erreichten Ergebnisses zu groß gewesen. Trotzdem geben die Pfeile den durch eine lange und zeitlich verteilte Beobachtungszeit erarbeiteten Eindruck wieder (vgl. den Exkurs zur Beobachtungsmethode); sie sollen dazu beitragen, dass klarer wird, wie sich das Geschehen am Marlene-Dietrich-Platz gestaltet. Einige Gründe für die Verteilung der Ankommenden auf die verschiedenen Wege wurden bereits vorgestellt (z.B. Ankunft eines großen Teils der BesucherInnen mit U- und S-Bahn oder mit dem Auto), andere werde ich im Folgenden noch darstellen.

Die am deutlichsten auf den Marlene-Dietrich-Platz zulaufende Achse ist die von Nordosten kommende Alte Potsdamer Straße. Sie erstreckt sich (wie im Namen ausgedrückt, dem alten Verlauf der Potsdamer Straße vor dem Mauerbau folgend) vom Potsdamer Platz aus nach Südwesten, direkt auf den Marlene-Dietrich-Platz zu. Durch das Hochhaus von Hans Kollhoff, die Breite der Straße, die großen alten Linden und die offene Anbindung an den Potsdamer Platz ist die Alte Potsdamer Straße nicht nur in der Abstraktion einer Straßenkarte die maßgebliche Achse zum Marlene-Dietrich-Platz. Dieser Eindruck wird auch dadurch hervorgerufen, dass die Alte Potsdamer Straße nahezu frontal auf den Marlene-Dietrich-Platzes stößt. Die andere, frontal zum Marlene-Dietrich-Platz führende Straße ist die Rudolf-von-Gneist-Gasse, da die Strecke von den Potsdamer Platz Arkaden bis zum Marlene-Dietrich-Platz recht kurz ist und diese Straße sehr viel schmaler ist, ist ihre Anbindung an den Platz weniger deutlich. Die Linienführung der anderen Straßen stößt eher seitlich auf den Platz und sticht weniger hervor. Eine Gemeinsamkeit ist, dass keine der auf den Marlene-Dietrich-Platz zuführenden Straßen eine Kurve macht, so dass sich jeweils die Perspektiven gerader, von den Gebäuden des Quartiers DaimlerChrysler eingefasster Straßenfluchten bilden.


Foto 9

Straßenschlucht mit einigen Passanten, im Vordergrund ein Fotografierender in Shorts

Vom Potsdamer Platz auf Alte Potsdamer Straße und Marlene-Dietrich-Platz. Mai 2001.


Foto 9 ist so aufgenommen, dass die Straßenflucht in ihrer Ausrichtung auf einen Punkt, den Marlene-Dietrich-Platz, sehr deutlich wird. Zusätzlich wird auf dem Bild aber auch sichtbar, dass die Straßen im Quartier DaimlerChrysler nicht allein für FußgängerInnen konzipiert wurden. Im Gegenteil, die drei großen, zum Marlene-Dietrich-Platz führenden Straßen sind Tempo 30 Zonen in denen Autos, Busse und Taxis verkehren und parken. Die Straßenführung ist so angelegt, dass kein Durchgangsverkehr entsteht. Dies begrenzt den Verkehr auch in gewissem Maße, es ist aber in der Regel nicht möglich, während eines Wochentages ungestört auf der Straße entlang zu laufen. Auch bei der Überquerung der Straßen ist es notwendig, dem Autoverkehr Aufmerksamkeit zu zollen und gegebenenfalls zu warten, bis eine Überquerung möglich ist. Zwei Dinge sind in diesem Zusammenhang regelmäßig zu beobachten: Erstens kommt es immer wieder dazu, dass Menschen beim Überqueren der Straße nicht die nötige Aufmerksamkeit gegenüber dem Straßenverkehr zeigen und Autos dementsprechend abbremsen und warten müssen und zweitens legen die FußgängerInnen in einer solchen Situation häufig eine gewisse Nonchalance an den Tag, d.h. es kümmert sie nicht sehr, dass die Autos langsamer fahren müssen. Im Gegensatz zur Bewegung an einer gewöhnlichen Straße verhalten sich die Gehenden so, als ob nicht nur der Gehsteig, sondern auch die Straße selbst schwerpunktmäßig für den freien Fluss des Gehverkehrs gedacht ist.

An dieser Stelle entsteht ein Widerspruch zwischen der technischen oder rechtlichen Anlage der Straßen im Quartier DaimlerChrysler und der Definition ihrer Aufgabe durch die NutzerInnen. Die Autofahrer sind hier wohlgemerkt eingeschlossen, denn es kommt nur selten vor, dass Autos hupen oder die Fahrenden aggressiv auf die auftretenden Verzögerungen reagieren. Ausnahmen sind einerseits die regelmäßig zu beobachtenden Cabriolets und getunten Wagen, die zwischen langsamer Promenadefahrt und schnellem um die Kurven rauschen wechseln [11] und andererseits die großen Reise- und Touristenbusse. Beide Gruppen müssen allerdings meist nicht reagieren, da sie sich durch Größe und oder Lautstärke vorher ankündigen und Gehende in diesen Fällen abwarten und erst später die Straße überqueren. Zusammenfassend lässt sich jedoch sagen, dass die Straßen des Quartiers DaimlerChrysler von ihren NutzerInnen so behandelt werden, dass der Fußgängerverkehr stärker berücksichtigt wird, als in der Straßenverkehrsordnung vorgesehen und als dies in vielen anderen Tempo 30 Zonen üblich ist; das Nutzungsverhalten deutet eher auf eine am Modell der Fußgängerzone angelehnte Definition dieses Raums durch seine NutzerInnen hin.

Der auf Foto 9 im Vordergrund zu sehende Mann in Shorts fotografiert die auf dem Bild zu sehende Perspektive. An diesem Ort lassen sich häufig Menschen beim Fotografieren beobachten. Für die Bestimmung des Charakters dieses Ortes haben diese FotografInnen eine ähnliche Funktion, wie die bereits erwähnten SouvenirverkäuferInnen, sie kennzeichnen den Raum als einen touristischen. Im Falle des Fotografierens lässt sich allerdings noch ein weiterer Aspekt ausmachen; wenn Leute ein bestimmtes Objekt oder eine bestimmte Perspektive fotografieren, ruft dies bei den Beobachtenden gewöhnlich die Reaktion hervor, dass die fotografierte Perspektive oder das Objekt besonders hervorgehoben und dementsprechend von den Beobachtenden selbst betrachtet wird. Ein regelmäßig fotografiertes Objekt kann so eine eigene Dynamik entwickeln und in das Zentrum der Betrachtung Vieler rücken. Ich führe dies in diesem Zusammenhang aus, um hervorzuheben, dass der Potsdamer Platz im Gesamten, und bestimmte Aspekte oder Perspektiven an diesem Ort im Besonderen, Gegenstand gezielter Beobachtung sind. Der Raum wird nicht einfach passiv wahrgenommen, sondern zum Ziel aktiver Betrachtung und Bewertung. Auf diese Bewertung des Raumes, seiner Gestaltung und Ästhetik und seines Nutzens durch die BesucherInnen gehe ich im später folgenden Abschnitt mit dem Titel Kritik und Konsum etwas ausführlicher ein.

Führt der Weg zum Marlene Dietrich Platz an der Alten Potsdamer Straße oder der südlichen Eichhornstraße vorbei, dann wird ein Magnet passiert: Das Einkaufszentrum Potsdamer Platz Arkaden. Dieses Einkaufszentrum öffnet sich zu beiden Straßen hin in einem Vorplatz.


Foto 10

Stahl-Glas Architektur des Arkaden im Hintergrund, davor viele Passanten, links Cafebetrieb, rechts eine Gruppe von Menschen

Vorplatz der Potsdamer Platz Arkaden an der Alten Potsdamer Straße. Mai 2001.


Durch die auf Foto 10 zu sehende offene Gestaltung des Eingangsbereiches, die dort liegenden Geschäfte, das einsehbare, beleuchtete und klimatisierte Innere und durch den Publikumsverkehr in und aus den Arkaden wird der direkte Weg zum Marlene-Dietrich-Platz unterbrochen; die Vorbeigehenden werden zum hineinschauen und auch zum hineingehen motiviert. Die Arkaden sind der herausragende Magnet; die anderen Einrichtungen sind von kleinerem Maßstab und haben ein eingeschränkteres Nutzungsprofil: Cinemaxx und die verschiedenen Gastwirtschaften absorbieren nur einen Teil des Publikums.

Die anderen Möglichkeiten, zum Marlene-Dietrich-Platz zu gelangen, werden von weniger Menschen genutzt. Trotzdem sollen noch zwei andere Zugänge zum Platz vorgestellt werden, da sie deutlich andere Räume durchqueren und so auch andere Aspekte der Einbettung des Marlene-Dietrich-Platzes in die unmittelbare Umgebung deutlich werden. Im Süden des Marlene-Dietrich-Platzes liegt eine große, offene Wasserfläche, die sich als ein Dreieck vom Reichpietschufer an der Staatsbibliothek, dem Musical Theater und dem Debis Gebäude entlang bis zum Marlene-Dietrich-Platz erstreckt und dort in einen Kanal mündet.


Foto 11

Bei sonnigem Wetter auf den Ufertreppen sitzende Menschen, rechts ein Kranwagen

Nordufer der Wasserfläche vom Musical Theater in Richtung Südwesten. Mai 2001.


Die am Ufer aufgestellten Informationstafeln bezeichnen diese Wasserfläche als Das Urbane Gewässer am Potsdamer Platz, welches wichtige Funktionen im Hochwasserschutz (Es hält Regenwasser zurück zur Nutzung und langsamen Ableitung), für das Stadtklima (Es wirkt ausgleichend auf Temperatur, Luftfeuchte und Staubentwicklung) und für die Freiraumqualität (Wasser ein faszinierendes Lebenselement in der Stadt) erfüllt. Wasser ist ein faszinierendes Element und Wasserflächen haben einen ausgleichenden Einfluss auf das Stadtklima – eine weitere Funktion dieser offenen Wasserflächen im Stadtraum ist jedoch, dass die von Wasser bedeckten Flächen nicht als Versammlungsorte dienen können. Mit Ausnahme von experimentierfreudigen Individuen, wie z.B. Kindern, nutzt niemand die eigentliche Wasserfläche zum Aufenthalt – dafür kommen nur die Ufer in Frage.

Bei angenehme Wetterlagen ist das Nordufer der Wasserfläche durch die direkt am Wasser eingesetzten Treppenstufen zum Hinsetzen einladend und wird, wie auf Foto 11 zu sehen, auch von verschiedenen Gruppen dazu genutzt. Das Spektrum der dort Sitzenden reicht in der Regel von Familien mit Kindern, Jugendlichen, Leuten mit Einkaufstüten aus den Potsdamer Platz Arkaden bis zu Anzug tragenden Büroangestellten. Wasserflächen haben mehrere Charakteristika, die den (geschäftlichen) Anliegern zum Vorteil gereichen. Erstens werden sie in diesem konkreten Fall zur Erfüllung von Auflagen des Senats bezüglich der bereit zu stellenden Freiflächen genutzt, zweitens schaffen sie eine offene Fläche, die praktisch immer sauber und angenehm aussieht, kein Rasenmähen oder häufiges Müllsammeln erfordert [13], drittens haben sie gegenüber Parks den bereits erwähnten Vorteil, dass sie keine größeren Versammlungen erlauben oder zu als unangemessen eingeschätzten Nutzungen einladen (wie zum Beispiel dem Grillen im benachbarten Tiergarten), schließlich stellen die Wasserflächen kein Hindernis für Sicht und somit Kontrolle dar. Im Gegenteil, denn Schall z.B. trägt besonders gut über Wasserflächen – es entstehen so keine verdeckten Nischen im Raum (siehe. dazu einen Abschnitt aus Spontaneität und Steuerung).

Der andere Ausnahmeweg zum Marlene-Dietrich-Platz ist, im Gegensatz zum gerade geschilderten, nahezu völlig verdeckt. Er führt, wie auf Foto 12 zu sehen, zwischen Casino und Staatsbibliothek entlang; der Marlene-Dietrich-Platz wird von dort aus durch die, in der Bildmitte als senkrechter dunkler Strich zu erkennende, vielleicht sechs Meter schmale, spaltenartige Öffnung zwischen Casino und Musical Theater betreten.


Foto 12

Menschenleere Schlucht (gepflasterte Straße) zwischen Staatsbibliothek und Casinogebäude

Von der Neuen Potsdamer Straße zwischen Casino und Staatsbibliothek nach Süden. Mai 2001.


Dieser Weg ist der engste verfügbare und ihm sind nur die Rückseiten der anliegenden Gebäude zugewandt. So ist keiner der an der Ostseite der Staatsbibliothek gelegenen Eingänge offen und der einzige Eingang von diesem Weg zum Casino ist der mit Videokamera und Sprechanlage versehene Personaleingang. Dieser Weg ist also vor allem für Personal und für die wenigen Wagemutigen interessant, die sich fragen, was es hier wohl zu sehen gibt, und wo es einen hinführen mag. Für Ortskundige kann dieser Weg auch eine geringfügige Abkürzung sein, aber auch diese Funktion lockt nur wenige, so dass nur ein winziger Anteil der Leute den Marlene-Dietrich-Platz von hier her kommend betritt.


Damit sind die zum Marlene-Dietrich-Platz führenden Wege durch das Quartier DaimlerChrysler besprochen und die Schritte der BesucherInnen auf dem Platz angelangt. Was nun? Das kommt darauf an, welche Absicht zum Marlene-Dietrich-Platz geführt hat. Nach meinen Beobachtungen ergibt sich ein sehr gemischtes Bild. Einige passieren den Marlene-Dietrich-Platz bloß; für diese ist der Platz nur eine vorbeiziehende Umgebung. Andere sind zu diesem Ort gegangen, um in eine der dort anliegenden Einrichtungen zu gehen, in das Discovery IMAX Kino, um dort einen der ungefähr dreiviertelstündigen Filme auf der riesigen Kuppel oder in 3D zu erleben, in den Glöckner von Notre Dame, der im Stella Musical Theater aufgeführt wird, ins Casino, um dort zu spielen und anderen beim Spielen zuzuschauen; sie könnten in eine der Gastwirtschaften wollen, die vom Restaurant des Hyatt Hotels, in das Restaurant im Casino, ins Adagio, das sich auf einer Broschüre mit einem Zitat von Novalis schmückt und das gehobene Erlebnisgastronomie und VIP Bereich verspricht, sie könnten auch im Tony Romas amerikanisch-italienische Küche zu sich nehmen oder bei McDonald’s Burger und Milchshake verzehren. BesucherInnen könnten auch zu einem der zahlreichen Events gekommen sein; am Platz wird der Welt-Falun-Gong Tag mit Meditationen begangen, die Berliner Feuerwehr feiert ihr Jubiläum und veranstaltet eine Brandshow, eine Jazz Band spielt vorm Casino Restaurant – diese Veranstaltungen locken ein eigenes Publikum an und laden andere zum Verweilen ein. Wieder andere sind schließlich zum Marlene-Dietrich-Platz gekommen, weil sie sich vielleicht den Potsdamer Platz ansehen wollen und die Wege und Strassen des Quartiers DaimlerChrysler sie wie beschrieben zu diesem Ort geführt haben oder, wenn sie den Ort kennen und sie anderen Geschäften am Potsdamer Platz nachgehen, um zu erkunden, was gerade auf dem Platz passiert – sie bummeln, radeln oder skaten mal vorbei.

Fußnoten

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