Von der schlechten alten Zwangsgemeinschaft zum guten neuen Single ?

Ein Statement in sieben Punkten

Arthur E. Imhof


Von der schlechten alten Zwangsgemeinschaft zum guten neuen Single

Überarbeitete Fassung eines Beitrags in: Gerd Grözinger (Herausgeber): Das Single. Gesellschaftliche Folgen eines Trends. Opladen: Leske + Budrich 1994, 17-24 (mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers; nachträglich erschienene Publikationen sind nicht eingearbeitet worden).

Als Hintergrundinformation nehme man nochmals die beiden kommentierten Illustrationen zur Kenntnis:

1680 - 1980: vom terrorisierenden Tod zur Überwindung von "Pest - Hunger - Krieg"
1680 - 1980: Gemeinschaft - Gesellschaft


Ein Statement in sieben Punkten

1. Überleben in einer Zwangsgemeinschaft
2. Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit
3. Eine weltweite Entwicklung
4. An unsere Tage gebunden
5. Frei für Pflichten anderer Art
6. Negative Auswirkungen
7. Chance und Aufforderung


1. Überleben in einer Gemeinschaft

Während Jahrhunderten waren unsere Vorfahren, wie Millionen Menschen anderswo noch heute, aufgrund widriger äusserer Umstände gezwungen, sich zwecks Überlebens zu Gemeinschaften zusammenzuschliessen. Die Integration in eine Familie, einen Haushalt, eine Kloster-, Zunft- oder Militärgemeinschaft mit entsprechender Unterordnung unter gemeinsame Ziele bot in damaligen, quasi permanent existenzbedrohenden "Pest, Hunger und Krieg"-Zeiten zumindest einen relativen Schutz. Auf sich selbst gestellt hätte kaum jemand auf Dauer überlebt. Im Zentrum befand sich der Hof, die Familie, das Geschlecht, die Zunft, das Kloster. Sie versprachen mehr Stabilität als das einzelne EGO, dessen Leben mal fünf oder zehn, mal dreissig oder siebzig Jahre währte. Auf dermassen unsichere Existenzen war kein Verlass. Man fühlt sich an das vielfach zu beobachtende Zusammenleben von Tieren in Gemeinschaften erinnert. Anders als wir heutigen Mittel-, West-, Nordeuropäer leben sie nach wie vor in den alten "Pest, Hunger und Krieg"-Zeiten. In der Tierwelt bringt das "soziale Verhalten" den jeweiligen Artgenossen ganz offensichtlich eine Reihe evidenter Vorteile, so im Hinblick auf:
- Gefahrenvermeidung: Viele Tiere sind in Gruppen besser vor Feinden geschützt, als wenn sie einzeln lebten. Gefahren können rascher erkannt und Feinde gemeinsam wirkungsvoller angegriffen oder abgewehrt werden;
- Nahrungserwerb: Der Erwerb von Nahrung oder das Auffinden von Wasserstellen kann im sozialen Verband erleichtert und verbessert werden;
- soziales Lernen: Ein wichtiger Vorteil der sozialen Organisation besteht in der Möglichkeit, dass junge Tiere von den Erfahrungen der älteren profitieren, so zum Beispiel bei der Vermeidung von Gefahren oder dem Nahrungserwerb beziehungsweise dem Auffinden von Wasserstellen.



2. Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit

Eine dermassen lange "Pest, Hunger und Krieg"-freie Zeit wie wir seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erlebten bei uns noch nie ähnlich viele Menschen. Dieser fundamentale Wandel von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit führte einerseits zu einem standardisiert hohen und immer noch höheren durchschnittlichen Sterbealter sowohl bei Männern wie auch - mit noch mehr gewonnenen Jahren - bei Frauen. Eine natürliche Folge dieser Divergenz sind die vielen weiblichen Singles im hohen Alter. Frauen heiraten zudem meist etwas früher als ihre Männer. Acht- bis zehnjährige Witwenschaften sind insgesamt somit keine Seltenheit. Andererseits brachte der Wandel logischerweise eine immer stärkere Lockerung der erwähnten Zwangs-Gemeinschaftsbande mit sich. Mehr und mehr Zeitgenossen lös(t)en sich aus schlechten alten Gemeinschaften oder gingen/gehen erst gar nicht mehr welche ein. Immer häufiger kommt es nur noch zu Teilzeit-Gemeinschaften: fürs Tennis- oder Bridge-Spielen, zum Wandern oder Reisen, zum Erteilen oder Bekommen von Streicheleinheiten beziehungsweise zur Befriedigung welcher emotionaler, körperlicher, geistiger, seelischer, sozialer, kultureller, beruflicher, wirtschaftlicher Bedürfnisse auch immer. Wer heute will, kann als Mann wie Frau ein temporäres oder permanentes Singledasein führen, ohne dass dadurch die Existenz im mindesten gefährdet wäre. Der allgemeine Wohlstand erlaubt es weitesten Kreisen, von einem diversifizierten Konsum-, Freizeit-, Bildungs-, Dienstleistungsangebot reichlich Gebrauch zu machen. Ausnahmen werden von immer noch tragfähigen sozialen Netzwerken aufgefangen. Niemand stirbt bei uns "einfach so" mehr hungers.



3. Eine weltweite Entwicklung

Weltweit gesehen scheint es nur so, als ob es sich beim ausgebreiteten Singlewesen um ein "westliches" Phänomen handele beziehungsweise um eine alltägliche Erscheinung nur in Industriestaaten. Die anderen Völker folgen uns mit grösserem oder kleinerem Zeitverzug in dieser Entwicklung nach. Gegenwärtig ist der Wandel von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit indes noch kaum anderswo weit genug gediehen, um bereits zu einem ähnlich massenhaften Ausbruch aus den alten Zwangsgemeinschaften zu führen. Erst in Ausnahmefällen lässt sich ein Singledasein als Alternative realisieren, in fortgeschritteneren Schwellenländern beziehungsweise NICs (= Newly Industrialized Countries) eher als in zurückgebliebeneren Dritt- und Viertweltländern, in urbanisiert verdichteten Regionen eher als auf dem platten Lande.

Wichtig ist, die Menschen jedoch auch dort schon heute darauf vorzubereiten, dass sie sich nicht automatisch länger auf ihre angeblich intakten traditionellen Gemeinschaftsbande (gemeint ist meist der Familienzusammenhalt) verlassen können, wenn auch ihre Lebenserwartung aufgrund zunehmenden Wohlstands steigt, das heisst ihr Leben an Sicherheit gewinnt. Hierbei ist insbesondere an die dann zwangsläufig wachsende Zahl älterer Menschen, vor allem wiederum an die vielen Single-Witwen zu denken, aber ebenso an familienplanerisch immer kleiner werdende "Gemeinschaften", an zunehmende Mobilität sowie an Migration über lange und sehr lange Distanzen mit dem Abbruch intergenerationeller Bande als Folge. Während der Wandel von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit im allgemeinen überall vorbehaltlos angestrebt wird - wer wünschte sich denn nicht ein quasi garantiert langes Leben frei von "Pest, Hunger und Krieg" in Wohlstand und Frieden? -, möchte man uns im Hinblick auf die "Kehrseite der Medaille" nicht nachfolgen. Diesbezüglich streut sich allerdings Sand in die Augen, wer die Auflösung der Gemeinschaftsbande bloss als "typisches Zeichen westlicher Dekadenz" diffamiert. Es gibt das eine: das lange sichere Leben mit den vielen guten Jahren, nicht ohne das andere: den Ausbruch mancher Zeitgenossen aus der Zwangsgemeinschaft. Der Mensch war nie jenes "soziale Wesen", gemeint als ein Wesen mit sozusagen implantierter Bereitschaft zum Eingehen langfristiger gegenseitiger Verpflichtungen, wie man uns das lange glauben machen wollte. Wir waren bloss Jahrhunderte und Jahrtausende zum Spielen der Rolle genötigt, und anderswo ist man das noch heute. Sobald sich jedoch auch dort der Wandel von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit vollzieht und sich der Wohlstand breit macht, werden dort genauso immer mehr Menschen die Zwangsrolle abstreifen und als Singles durchs Leben gehen.

"Immer mehr" - und das sei hier unterstrichen - heisst nicht "alle". Weder waren bei uns früher alle Gemeinschaften schlechte Gemeinschaften, noch sind sie das selbst in unseren Tagen auch dort nicht, wo sie keineswegs auf Freiwilligkeit basieren. Ebenso wenig werden jemals sämtliche Menschen Gebrauch von der Möglichkeit zu einem Singledasein machen. (Wie jeder weiss, gibt es ausserdem unfreiwillige Singles.) Nach sorgsamem Abwägen von Vor- und Nachteilen dürften weiterhin Abertausende Männer und Frauen bei uns wie anderswo einem ebenso gewollten wie erstrebten Zusammenleben, mit oder ohne Nachwuchs, den Vorzug geben. Man könnte hier geneigt sein, von den "guten neuen (weil freiwilligen) Gemeinschaften" zu sprechen. So rasch sterben Nationen nicht aus, wie das pronatalistisch angehauchte Medienbeiträge immer etwa wieder - Befürchtungen schürend - marktschreierisch posaunen.



4. An unsere Tage gebunden

Sollten die bei uns derzeit weitgehend unter Kontrolle gebrachten "Pest, Hunger und Krieg"-Zustände zurückkehren, würden beziehungsweise müssten auch wir umgehend wieder in die Rolle von "sozialen Wesen" zwecks Erhöhung unserer Überlebenschancen schlüpfen. Derzeit ist jedoch kaum anzunehmen, dass irgendjemand den erfolgten Wandel von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit rückgängig machen wollte, bloss um dadurch "wieder mehr Gemeinschaft", "wieder mehr Familie", "wieder mehr Intimität" herbeizuführen. Allerdings weiss gerade der Historiker, dass welche Zustände auch immer, und mochten sie noch so viele Jahre gewährt haben, nie "ewig" dauern. Historisch wie weltweit gesehen befinden wir uns in einer völlig anormalen Ausnahmesituation. Noch nie kam vor, dass die Mehrheit aller bei uns lebenden Menschen "Pest, Hunger und Krieg" nicht aus eigener Erfahrung kannte. AIDS als neue "Pest" spielt grössenordnungsmässig in den Todesursachenstatistiken - noch - keine entscheidende Rolle. Wer nach dem Krieg geboren wurde, weiss höchstens vom Hörensagen beziehungsweise aus den Medien, was "Hunger" ist. Der "Kalte Krieg" tötete nicht, und "Heisser Krieg" vom Fernsehsessel aus kann uns nichts anhaben, selbst wenn er - wie vor kurzem im ehemaligen Jugoslawien - noch so nahe an unseren Grenzen tobt. "Pest, Hunger und Krieg" sind immer "Pest, Hunger und Krieg" bei den andern, nicht bei uns.



5. Frei für Pflichten anderer Art

Singles sind keine Sunny Boys und Sunny Girls. Sie sind auch nicht die masslos egoistischen Hedonisten, als die man sie gelegentlich hinstellt. Was sich bei ihnen geändert hat, ist einzig, dass sie nicht länger gezwungen sind, sich zwecks Überlebens einer Gemeinschaft einzufügen und unterzuordnen. Aufgrund der möglich gewordenen Freisetzung von engen gegenseitigen Gemeinschaftsverpflichtungen in Familie, Ehe, Partnerschaft, auf dem Hof, im Geschäft usw. können und sollen sie Pflichten anderer Art wahrnehmen. Wer wüsste zum Beispiel nicht, dass es auch hierzulande nach wie vor Menschen gibt, die auf die Hilfe Anderer angewiesen sind, Alleinerziehende etwa oder Behinderte, hilfs- und pflegebedürftige ältere und alte Menschen und andere mehr? Vor allem aber gibt es jede Menge Aufgaben ausserhalb unserer privilegierten Ersten Welt. Allein in einem Land wie Brasilien, das ich etwas näher kenne, wachsen schätzungsweise zwölf bis sechzehn Millionen "Crianças na rua", das heisst "Kinder auf der Strasse" heran. Sie haben nicht einmal einen Elternteil. Niemand sage mir, wir könnten da nichts tun. Wir können das sehr wohl, jedes Single auf seine Weise; in Erziehungsberufen Tätige auf ihre Weise, Kinderärzte auf ihre Weise, Juristen, Architekten, Handwerker auf ihre Weise, und selbst ein Historiker oder Historiker-Demograph (der ich bin) auf seine Weise. So ermöglicht mir mein eigenes Singledasein, mich seit Jahren zwischen dem Berliner Sommer- und Wintersemester regelmässig als freiwilliger Gastdozent an brasilianischen Universitäten für Intensivkurse zur Verfügung zu stellen. Auf der südlichen Halbkugel, wo sich Brasilien wie die meisten Schwellen- und Entwicklungsländer befindet, ist dann das Wintersemester in vollem Gange. Als gemeinschaftseingebundener Familienvater könnte ich mich schwerlich Jahr für Jahr monatelang von zuhause verabsentieren. Die von der Gastgeberseite gewünschten Themen sind dabei immer wieder dieselben. Allermeist geht es darum zu erläutern, wie und weshalb wir in den entwickelten Ländern den Wandel von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit so erfolgreich bewerkstelligt haben und wie sie selbst diesen ersehnten Zustand ebenfalls möglichst bald erreichen könnten.

Darüber hinaus aber geht es (mir) darum, auch die Kehrseite der Medaille zur Sprache zu bringen. Die uns in der Entwicklung Nachstrebenden sollen auf die vielfältigen Folgeprobleme aufmerksam gemacht werden, die auch bei ihnen unweigerlich mit dem Wandel verbunden sein werden (so zum Beispiel die drastische Zunahme aller altersbezogenen Probleme, die weiter oben erläuterte Lockerung und schliessliche Auflösung traditioneller [Zwangs-] Gemeinschaftsbande, die immer weiter um sich greifende Individualisierung und Singularisierung). In manchen Entwicklungsländern ist unser geschichtliches Vorbild brennend aktuell und höchst relevant. Plötzlich sieht sich der Historiker und Historiker-Demograph aus Europa in die Rolle eines gefragten Fachmanns versetzt. - Am Ende von Punkt 5 lässt sich das Fragezeichen in der Überschrift somit sehr wohl ins Positive wenden und affirmativ konstatieren: Von der schlechten alten Zwangsgemeinschaft zum guten neuen Single. Diese Feststellung trifft immer dann zu, wenn Singles in der skizzierten Weise zur Übernahme jener Sorte neuer Aufgaben bereit sind, die Nicht-Singles so nicht leisten können.



6. Negative Auswirkungen

Nicht verschwiegen werden soll, dass es durchaus auch negativ zu Buche schlagende Auswirkungen des um sich greifenden Singlewesens gibt. Man denke etwa an die Inbeschlagnahme von überdurchschnittlich viel und gutem Wohnraum - einem knappen Gut also - durch Einpersonenhaushalte (in grösseren Städten sind das rund die Hälfte aller Haushalte, wenn nicht mehr). Solche Negativposten liessen sich jedoch ebenso einfach wie effektiv durch etwas mehr Bescheidenheit von seiten der Verursacher beheben. Man kann auch sagen: durch etwas mehr Augenmass, etwas mehr Sinn für Realitäten und Machbarkeiten, oder eben durch etwas mehr Verantwortung jener Gesellschaft gegenüber, ohne die auch ein Single nicht auskommt. Das mag zuerst utopisch und blauäugig klingen, ist es jedoch nach Zurkenntnisnahme der Punkte 1 bis 5 kaum länger. Spätestens dann müsste eigentlich ein jeder die Ansicht teilen, dass wir aufgrund des Wandels von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit ausnahmslos alle mehr Jahre auf Erden haben, weil wir ausnahmslos alle bessere Jahre haben, und zwar im Vergleich sowohl zu unseren eigenen Vorfahren noch bis vor kurzem wie auch zu heutigen Zeitgenossen in der Zweiten, Dritten, Vierten Welt. Wer trotz unserer enorm privilegierten Stellung dann immer noch bloss mehr haben will um des Mehrhabens willen, das heisst noch mehr und noch besseren Wohnraum in noch exklusiverer Lage, noch mehr und noch bessere Lebensjahre, noch mehr Urlaub mit noch grösserer Mobilität, einen Zweit- und Drittwagen und noch ein Motorrad dazu, ein Wochenendhaus sowohl am See wie im Gebirge, den allerdings nenne ich einen unverbesserlichen Egoisten und Hedonisten. Beispiele dafür gibt es indes keineswegs nur unter Singles; Dinkies - double income, no kids - mögen noch anfälliger sein. Den Singles allerdings fiele es leichter, einen Beitrag zur Lösung der akuten Parkraum- und Verkehrsprobleme zu leisten. In einer Stadt wie Berlin mit leistungsfähigen und wenig streikanfälligen öffentlichen Verkehrsmitteln komme ich seit Jahren auch ohne Auto ganz gut zurecht. Für dringende Fälle stehen rund um die Uhr Funktaxis abrufbereit zur Verfügung.



7. Chance und Aufforderung

Wie mehrfach ausgeführt, liegt dem verbreiteten Singledasein in erster Linie der Wandel von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit - verknüpft mit zunehmendem Wohlstand - zugrunde. Dieser Wandel führte indes nicht nur zu einer sozialen Freisetzung des Individuums aus alten Gemeinschaftsbanden, sondern vielfach auch zu einer ebensolchen aus weltanschaulich-religiösen Bindungen. So haben wir nun zwar sämtlich mehr und bessere Jahre auf Erden, aber sie sind alles, was vielen von uns nach dem häufig eingetretenen Verlust des Glaubens an die Ewigkeit geblieben ist. Vor solchem Hintergrund scheint es nun mit unserer Selbständigkeit und Selbstverwirklichung nur so lange gut zu gehen, wie es uns tatsächlich gut geht. Seit der Renaissance strebten wir Menschen im Abendland die Freisetzung des Individuums aus alten Bindungen an. Doch jetzt, wo die Realisierung des alten Traumes erstmals einer grösseren Mehrheit denn je möglich ist, kommt es einem vor, als ob wir auf dem Weg zur intendierten Bindungslosigkeit und zur gewollten Selbständigkeit auf halber Strecke stehen geblieben sind. Vor allem Singles bleiben selbstverständlich Singles auch im Dritten und Vierten Alter, das heisst in Abschnitten des Lebens, in denen es vielen Menschen nicht länger gleichermassen gut geht wie während der besten Jahre zuvor. Ganz am Ende müssen schliesslich unzählige den letzten Gang allein gehen. In solch schwierigen Situationen reicht dann bei manchen die Selbständigkeit unversehens nicht mehr aus. Sie möchten "Gemeinschaft" zurückhaben. Wie Ertrinkende strecken sie die Hände aus, doch vergeblich. Hilfe ist nicht in Sicht. "Sterbende brauchen Solidarität" bleibt ein frommer Wunsch beziehungsweise ein schöner Buchtitel (Sammelband herausgegeben von Torsten Kruse und Harald Wagner; München: Beck 1986). Das Rad der geschichtlichen Entwicklung lässt sich nicht zurückdrehen, kurzfristig und nur auf bestimmte Situationen bezogen schon gar nicht.

Auch hier, so scheint mir jedoch, könnte ein Ausweg aus der misslichen Situation gefunden werden, wenn wir wieder ein bisschen bescheidener würden und etwas mehr Wirklichkeitssinn an den Tag legten. Ich denke dabei an die Umsetzung des Konzepts vom Lebensplan. Aufgrund des Wandels von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit sind wir erstmals in der Lage, unser Leben von einem relativ kalkulierbaren Ende her zu gestalten. Wer frühzeitig die Stärken und Schwächen der unterschiedlichen, vor allem auch der späteren Lebensphasen "planmässig" einkalkuliert und sich entsprechend vorbereitet, wird zu keinem Zeitpunkt völlig überrascht werden. Mit Bezug auf das Dritte, insbesondere aber das Vierte Alter meint der Lebensplan konkret, schon in jungen Erwachsenenjahren tiefwurzelnde Interessen auch geistig-kultureller Art in sich zu wecken und kontinuierlich zu pflegen, so dass es beim allmählichen Nachlassen der körperlichen, weniger der geistigen Kräfte mit 70, 75, 80 nicht zum Sturz in eine entsetzliche geistige Leere kommt. Für alle jene, die ihren Glauben an die Ewigkeit verloren haben oder einen solchen gar nie hatten, beinhaltet er zudem, mit gebührender Bescheidenheit zu akzeptieren, dass wir trotz gesicherterer, verlängerter Lebensspanne Sterbliche geblieben sind. Die beste Vorbereitung auf ein gutes Sterben liegt für sie in einem bewusst gelebten Leben, das die Umwandlung aller gewonnenen Jahre in erfüllte Jahre zum Ziele hat. Dann wird es am Ende leichter fallen, auch als einsam Sterbender das gelungene Leben (im aristotelischen Sinne) loszulassen und lebenssatt (im biblischen Sinne) von hinnen zu gehen.

In den alten "Pest, Hunger und Krieg"-Zeiten war allein sterben, vor allem während der häufigen Seuchenzüge, eine alltägliche Erscheinung. Doch bereiteten sich unsere Vorfahren anhand einer schmalen Holzschnitt-Bilderfolge mit dem Titel "Ars bene moriendi" - "Die Kunst des guten Sterbens" frühzeitig im Leben auf ihre letzte Stunde vor. Damals ging es im Rahmen der christlichen Welt- und Jenseitsanschauung darum, nicht in letzter Minute noch den Versuchungen teuflischer Mächte im Glauben, zur Verzweiflung, zur Ungeduld, zum Hochmut, zum Hang an irdischen Gütern zu erliegen. Wer auf diese Weise im "Do-it-yourself"-Verfahren ein gottwohlgefälliges Sterben erst einmal gelernt hatte, brauchte sich dann selbst vor dem wahrscheinlichen Single-Tod nicht länger zu fürchten. Wenn wir unseren Altvorderen nicht nachstehen wollen, sollten auch wir ähnliches fertigzubringen in der Lage sein. Singles könnten hier eine Vorreiterrolle übernehmen und den Weg der Selbständigkeit bis zum Ziel gefasst und in sich ruhend zu Ende gehen. Single sein ist ungeheure Chance und gewaltige Aufforderung zugleich. Sie ist umso unerhörter, als wir quasi über Nacht, will sagen fast von einer Generation auf die andere und historisch gesehen somit in allerkürzester Zeit in eine Lage katapultiert worden sind, die es für so viele Menschen hierzulande noch nie gab und die es sonst nirgendwo gibt. Zwar strebten wir sie - die vielen guten Lebensjahre - seit langem mit aller Macht an, fast so wie die Menschen in der ehemaligen DDR mit aller Macht die Freiheit erstrebten. Doch als sie es endlich geschafft und sie aus der Zwangsgemeinschaft ausgebrochen waren, begann es viele bald zu frieren. Auch unter den Singles frösteln zeitweise manche. Es sind jene, die nicht gelernt haben, dass Alleinsein und Einsamsein zwei völlig verschiedene Dinge zu sein vermögen, dass man auch in schwierigen Lagen mit seinem Alleinsein zu Rande zu kommen hat, dass man sich in jeder Situation auf seine Selbständigkeit verlassen können muss. Man kann nicht alles gleichzeitig haben auf Erden. Wo viel Licht ist, ist viel Schatten. Zu allen Medaillen gehören zwei Seiten. Jede dieser Redewendungen trifft auf das Singledasein zu. Je klarer wir erkennen, wo in einer Entwicklung wir uns derzeit befinden und je unvoreingenommener und ehrlicher wir eine entstandene Situation analysieren, umso besser sind die Aussichten für eine angemessene Reaktion beziehungsweise Lösung. Auf diese - keineswegs pessimistische - Weise möchte ich denn auch den Titel eines vor wenigen Jahren erschienenen Büchleins verstanden wissen: "Das unfertige Individuum. Sind wir auf halbem Wege stehen geblieben? Neun Bilder aus der Geschichte geben zu denken" (Köln-Weimar: Böhlau 1992). Sich daran anschliessend dann zu einem "fertigen Individuum" erziehen zu wollen, das heisst zu einem Menschen, der möglichst bis zum letzten Atemzug auf eigenen Füssen zu stehen vermag, ist nicht leicht. Es ist sogar sehr schwer. Dennoch halte ich es, unter der Voraussetzung der erwähnten Eigenbescheidung, für möglich.

Wenn jemand nach Einsicht in die Lage der Dinge etwas verändern will, fängt er damit am besten bei sich selbst an. Das gilt auch und nicht zuletzt für das Single, das diese Zeilen schrieb.



Die sieben Punkte des Statements beruhen auf folgenden Publikationen des Autors :

  • Die gewonnenen Jahre. Von der Zunahme unserer Lebensspanne seit dreihundert Jahren.
    Oder: von der Notwendigkeit einer neuen Einstellung zu Leben und Sterben. München: Beck-Verlag 1981.
  • Die verlorenen Welten. Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren - und weshalb wir uns heute so schwer damit tun.
    München: Beck-Verlag 1984.
  • Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit. Fünf historisch-demographische Studien.
    Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988.
  • Reife des Lebens. Gedanken eines Historikers zum längeren Dasein. München: Beck-Verlag 1988.
  • Die Lebenszeit. Vom aufgeschobenen Tod und der Kunst des Lebens. München: Beck-Verlag 1988.
  • Geschichte sehen. Fünf Erzählungen nach historischen Bildern. München: Beck-Verlag 1990.
  • Im Bildersaal der Geschichte oder Ein Historiker schaut Bilder an. München: Beck-Verlag 1991.
  • Ars moriendi. Die Kunst des Sterbens - einst und heute. Wien-Köln: Böhlau 1991.
  • Ars vivendi. Von der Kunst, das Paradies auf Erden zu finden. Wien-Köln: Böhlau 1992.
  • Das unfertige Individuum. Sind wir auf halbem Wege stehen geblieben? Neun Bilder aus der Geschichte geben zu denken.
    Köln-Weimar: Böhlau 1992.


© A. E. Imhof 1997