weitere Artikel zu Lebenden Fossilien
Ausstellung online
www.palaeo.de -Eingangsseite
Online-Begleitartikel zur Sonderausstellung "Von der Evolution vergessen? - Lebende Fossilien


Der Quastenflosser Latimeria -
ein "lebendes Fossil"

von Dr. Peter Wellnhofer

Bayerische Staatssammlung für Paläontologie und Historische Geologie
Ludwig-Maximilians-Universität München
Richard-Wagner-Str. 10
80333 München

 


Fossile Quastenflosserfische der Gruppe der sogenannten Coelacanthiden oder Hohlstachler sind den Paläontologen schon seit 160 Jahren bekannt. Seither hat man davon etwa 70 Arten in 28 Gattungen nachgewiesen, vom mittleren Devon (Alter 400 Millionen Jahre) bis zur mittleren Kreide (Alter ca. 100 Millionen Jahre). Ihre Blütezeit hatten sie in der unteren Trias. Daraus schloß man früher, daß diese Gruppe von Knochenfischen nach einer Existenzdauer von etwa 300 Millionen Jahren das Ende der Kreidezeit nicht überlebt habe und spätestens mit den Dinosauriern ausgestorben sei.

Die Entdeckung eines lebenden Quastenflossers im Jahre 1938 war deshalb auf dem Gebiet der Zoologie eines der sensationellsten Ereignisse dieses Jahrhunderts. Die Entdeckungsgeschichte wurde 1965 von J. Dugan so geschildert:

"Es war der 22. Dezember 1938. In East London, einer Hafenstadt an der Ostküste Südafrikas, sah Miss M. Courtenay-Latimer, die Kustodin des Städtischen Museums, sich interessiert ein paar Haie an, die ein Fischdampfer eingebracht hatte. Unter ihnen befand sich ein stark mitgenommener, ganz ungewöhnlicher Fisch, der mehr als anderthalb Meter lang war und 114 Pfund wog. Er war stahlblau, hatte große Schuppen, einen mächtigen Unterkiefer und fleischige Flossen, die wie Gliedmaßen abstanden. Er sah so merkwürdig aus, daß Miss Latimer es für das beste hielt, ihn zu konservieren. Sie transportierte den schweren, schmutzigen, öltriefenden Fisch ins Museum und versuchte dort, seine Artzugehörigkeit festzustellen. Aber sie konnte in ihren Nachschlagewerken keinen ähnlichen Fisch finden. So machte sie von ihm eine Skizze und schickte sie an Professor J.L.B. Smith, den berühmten Fischkundler an der Rhodes-Universität in Grahamstown, Südafrika. Professor Smith , der über hundert Fischarten entdeckt und benannt hat, war wie vom Donner gerührt: 'Ich wäre kaum erstaunter gewesen, wenn mir auf der Straße ein Dinosaurier begegnet wäre.' Denn dieser Fisch hätte eigentlich schon mit den Dinosauriern ausgestorben sein müssen. Er war den Biologen nur aus versteinerten Abdrücken bekannt, die vor Jahrmillionen entstanden waren. Hier hatte man ein Lebewesen vor sich, das sich seit mindestens sechzig Millionen Jahren kaum verändert hatte. 'So unglaublich es schien', sagte Professor Smith, 'ich mußte den Fisch als einen Hohlstachler (einen Coelacanthiden) bestimmen. Zu Ehren von Miss Latimer nannte ich ihn Latimeria.' Der Fisch erhielt den Artnamen chalumnae nach dem Fluß Chalumna, an dessen Mündung er gefangen wurde."

 

Fossiler Quastenflosser der Karbonzeit, Caridosuctor populosum Lund & Lund, Bear Gulch liemstone, Oberkarbon (Namur), Fergus County, Montana, USA. Alter ca. 320 Millionen Jahre. Paläontologische Staatssammlung München.
(Vergrößerung durch Klick auf Bild)

 


Erst 1952 wurde in der Umgebung der Komoreninsel Anjouan ein zweiter Quastenflosser gefangen, wo ihn ein Fischer in einer Tiefe von zweihundert Metern erbeutet hatte. Auch stellte sich heraus, daß dieser Fisch bei den Eingeborenen der Komoren unter dem Namen "Kombessa" schon längst bekannt war und - getrocknet und gesalzen - als billiger und wenig begehrter Speisefisch auf den Märkten verkauft wurde. Seine derben, rauhen Schuppen verwendet man als Sandpapier-Ersatz, wie etwa zum Aufrauhen von Fahrradschläuchen vor dem Flicken.

Bis heute sind im Indischen Ozean vor der Inselgruppe der Komoren, zwischen Madagaskar und Afrika, schon über 200 Quastenflosser gefangen worden. Sie gelangten zum größten Teil in Museen und zoologische Forschungsinstitute. Die Unterwasserexpeditionen von Professor Hans Fricke vom Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen vor den Komoren haben es in den vergangenen Jahren erstmals ermöglicht, den Quastenflosser Latimeria in seinem natürlichen Lebensraum zu studieren. Dabei erfuhr man viel Neues über die Lebensweise und das Verhalten dieser bis zu 1,8 Meter langen und in etwa 200 Meter Tiefe lebenden, urtümlichen Fische. Sie sind nachtaktive Fischjäger, die sich sehr langsam in den auf- und absteigenden Strömungen an den Abhängen dieser vulkanischen Inseln bewegen. Die dabei durchgeführte Bestandsaufnahme ergab, daß nur noch einige hundert Exemplare existieren, und die Art nicht zuletzt wegen der hohen Preise für einen Fang von der Ausrottung bedroht ist. Jährlich werden etwa drei Exemplare gefangen.

 

Rezenter Quastenflosser, Latimeria chalumnae Smith, fotografiert vor der Inselgruppe der Komoren, Indischer Ozean, von Prof. Dr. Hans Fricke, Max Planck-Institut für Verhaltensphysiologie, Seewiesen.

Darunter Zeichnung des Skeletts von Latimeria.

(Vergrößerung durch Klick auf Bilder)

Das Sensationelle an der Entdeckung von Latimeria war nicht nur, daß sie der längst für ausgestorben geglaubten Tiergruppe der Quastenflosser angehört, sondern daß es zwischen den ältesten fossilen Vertretern des Devons und der rezenten Latimeria kaum einen morphologischen Unterschied gibt, ihr Bauplan sich in den Jahrmillionen also kaum verändert hat. Die Schwanzflosse ist stets dreigeteilt, wobei der mittlere Teil wie ein Pinsel oder eine Quaste herausragt, was dieser Fischgruppe den deutschen Namen Quastenflosser eingebracht hat. Latimeria kann deshalb mit Recht als ein "lebendes Fossil" bezeichnet werden.

Die Quastenflosser (Crossopterygii) bilden zusammen mit den Lungenfischen (Dipnoi) eine eigenständige Gruppe von Knochenfischen, die Fleischflosser (Sarcopterygii). Sie alle haben vier paarige, muskulöse Flossen. Möglicherweise ist dies eine Anpassung an eine bodenbezogene Lebensweise, um sich über den Boden der Gewässer zu schieben oder sich an Hindernissen vorbeizuzwängen. Allerdings benutzt die rezente Latimeria nach den Beobachtungen von Professor Fricke ihre vier paarig angeordnete Flossen nicht zur Fortbewegung auf dem Meeresboden. Diese bewegen sich beim Schwimmen vielmehr alternierend synchron, also nach dem bei den vierfüßigen Landwirbeltieren, den Tetrapoden, üblichen Muster. Es können also die fleischigen, gestielten Flossen der Quastenflosser sozusagen als Vorläufer der vier Beine der ersten Tetrapoden, der Amphibien, aufgefaßt werden. Den Quastenflossern kommt deshalb als Stammgruppe der Landwirbeltiere eine ganz besondere Bedeutung zu.

Vereinfachter Stammbaum der Landwirbeltiere und ihre Abstammung von devonischen Quastenflossern.
(Vergrößerung durch Klick auf Bild)


Latimeria selbst gehört stammesgeschichtlich allerdings zu einer Seitenlinie der Quastenflosser, zu den Hohlstachlern oder Coelacanthiden. Die eigentliche Wurzelgruppe der Landwirbeltiere bildet die zweite Quastenflossergruppe, die Rhipidistia des Devons. Die meisten ihrer Skelettmerkmale sind denen früher Amphibien vergleichbar. Hier kann man vor allem den Rhipidistier Eusthenopteron aus dem unteren Devon als Modell für den Vorfahren der ersten Amphibien betrachten. Bei diesem Fisch ist das innere Knochenskelett der Flossen schon vergleichbar mit den Gliedmaßenknochen der frühesten Tetrapoden, wie bei den Urlurchen Ichthyostega oder Acanthostega aus dem oberen Devon. Damit war schon vor etwa 370 Millionen Jahren der entscheidende Schritt der Wirbeltiere vom Wasser aufs Land vollzogen, dokumentiert durch devonische Quastenflosserfische und ihre Abkömmlinge, die ersten Amphibien. Damit nahm die Evolution der Landwirbeltiere, der Tetrapoden, ihren Anfang und führte über die Reptilien schließlich zu den Säugetieren und letztlich bis zum Menschen.

Auch wenn Latimeria innerhalb des Stammbaums der Quastenflosser nicht zur engeren Stammgruppe der Landwirbeltiere gehört, kann ihr Studium doch dazu beitragen, die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Quastenflossern und Vierfüßern weiter zu untermauern. So hat man festgestellt, daß das im Blut von Latimeria enthaltene Hämoglobin in seinem molekularen Aufbau dem von Froschlarven, also Kaulquappen, sehr ähnlich ist. Auch in der Schädelstruktur und im Hörorgan finden sich Ähnlichkeiten mit den frühesten devonischen Landwirbeltieren, Ichthyostega und Acanthostega. All dies beweist, daß Latimeria tatsächlich der nächste lebende Verwandte der Tetrapoden, der Landwirbeltiere ist.

 



weitere Artikel zu Lebenden Fossilien
Ausstellung online
www.palaeo.de -Eingangsseite

letzte Änderung 08.12.1998 durch R. Leinfelder Copyright