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Online-Begleitartikel zur Sonderausstellung "Von der Evolution vergessen? - Lebende Fossilien


Ein armer Sünder?

von Dr. Doris Barthelt-Ludwig

für die Bayerische Staatssammlung für Paläontologie und Historische Geologie
Ludwig-Maximilians-Universität München
Richard-Wagner-Str. 10
80333 München

 

Nein — das war er gewiß nicht, dieser zu Stein gewordene Zeuge der Vorzeit, welcher als "Bein-Gerüst eines in der Sündflut ertrunkenen Menschen" (Homo diluvii testis) in die Geschichte der Naturwissenschaft einging. Überhaupt handelte es sich nicht einmal um menschliche Überreste, die da im 18. Jahrhundert dem Zürcher Stadtarzt und Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer aus den rund 14 Millionen Jahre alten Ablagerungen des Öhninger Steinbruchs am Bodensee zur Kenntnis gelangten und die er im Jahre 1726 in einem Flugblatt erstmals beschrieb und abbildete. Scheuchzer verglich das ihm vorliegende Fossil fast bis in jede Einzelheit mit Knochen und Weichteilen eines menschlichen Körpers und meinte, nun endlich den lange gesuchten Beweis für die biblische Sintflut in Händen zu halten. Mag diese krasse Fehleinschätzung, gerade bei einem Arzt, aus heutiger Sicht auch noch so befremdlich anmuten, muß man doch zweierlei zugute halten: Zum einen wirkte sich die religiöse Befangenheit stark aus, wonach man bestrebt war, die wörtliche Auslegung der Bibel zu untermauern; zum anderen erschwerte der schlechte Präparationszustand, in dem sich das Fossil damals befand, eine korrekte Begutachtung. Scheuchzer´s Einschätzung des Fundes konnte sich allerdings trotz seiner groben Fehldiagnose mehrere Jahrzehnte halten.

Nach der Meinung des Zürcher Arztes Scheuchzer handelte es sich bei diesem Skelett um die Überreste eines in der Sintflut umgekommenen, armen Sünders. Photo: Joop van Veen, Teylers Museum Haarlem, Niederlande.
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Cuvier löst das Rätsel

Inzwischen hatte der Steinbruch am Bodensee weitere Exemplare dieses seltsamen Lebewesens geliefert und verschiedene Gelehrte befaßten sich in der Folgezeit mit der Untersuchung und wissenschaftlichen Zuordnung des mittlerweile umfangreicheren Fossilmateriales. Nach mancherlei Irrwegen durch die zoologische Systematik, wonach das versteinerte Skelett auch als Überrest eines Welses gedeutet worden war, stellte man es schließlich im Jahre 1777 immerhin schon in die Gruppe der Amphibien und Reptilien. Doch erst die anatomisch-vergleichende Vorgehensweise von Georges Cuvier brachte im Jahre 1811 letztlich die Lösung des Problems: Cuvier verglich nämlich das Scheuchzer'sche Original, das sich mittlerweile im Besitz vom Teylers Museum in Haarlem (Niederlande) befand, mit dem Skelett eines modernen europäischen Salamanders. Dies war insofern ein kühnes Unterfangen, als kein einziges lebendes Exemplar der einheimischen Salamander auch nur annähernd die eindrucksvolle Größe von 1,35 Metern des fossilen Skeletts erreichte. Cuvier präparierte also das Scheuchzer´sche Original nach und legte Knochen für Knochen die Überreste eines Riesensalamanders frei.

Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) im Alter von 36 Jahren. Aus Hünermann und Rieber 1988.
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Dieses Ergebnis war um so sensationeller, als erst im Jahre 1829 der erste lebende Riesensalamander aus Japan nach Europa gelangte. Bis dato waren sowohl die ostasiatischen (japanische und chinesische) Vertreter der Riesensalamander, als auch sein kleinerer Verwandter aus Nordamerika in Europa wissenschaftlich noch völlig unbekannt. Cuviers Ergebnisse erfuhren nunmehr durch die Entdeckung und wissenschaftliche Erfassung der lebenden Tiere eine glänzende Bestätigung, und die letzten Zweifel an der Richtigkeit seiner Schlüsse konnten beseitigt werden.

Endlich bekam der Öhninger Fund auch seinen bis heute gültigen wissenschaftlichen Namen: nach Tschudi erhielt das Fossil im Jahre 1837 den Gattungsnamen Andrias und von Holl 1831 den Artnamen scheuchzeri — korrekt und vollständig also: Andrias scheuchzeri.

J. J. Scheuchzers Originaltext des Flugblattes von 1726. Aus Hünermann & Rieber 1988.

Was 1726 in der Literatur mit der Deutung eines in der Sintflut ertrunkenen menschlichen Sünders begonnen hatte, fand rund 100 Jahre später schließlich die richtige wissenschaftliche Einordnung als fossiler Riesensalamander aus der Ordnung der Schwanzlurche. Seither ist manch weiterer Fund von fossilen Riesensalamandern der Gattung Andrias gemacht worden, die von mindestens sechs verschiedenen mitteleuropäischen Fundstellen stammen (z. B. Rott am Niederrhein, Reisensburg/Bayern, Preschen in Böhmen, Brunn-Vösendorf bei Wien). Allen gemein ist die Tatsache, daß nur die versteinerten Knochen erhalten blieben und wie gewöhnlich keine Weichteile überliefert wurden. So muß sich denn natürlich auch der Vergleich zwischen fossilen und heute lebenden (rezenten) Riesensalamandern auf osteologische Untersuchungen, d. h. auf Studien der Knochen, beschränken. Aussagen zur Beschaffenheit der Weichteile sowie zur Lebensweise der Tiere lassen sich nur unter Vorbehalt aufgrund der Kenntnisse vom rezenten Vertreter machen.

 

 

 

 

 

 

 

Georges Cuvier (1769-1832) erkannte als erster die wahre Natur des "armen Sünders"

 

Nächtliche Jäger

Die natürlichen Bestände der heute noch vorkommenden asiatischen Riesensalamander (Gattung Andrias) finden sich nur noch in manchen Gegenden Japans und Chinas. Sie behalten zeitlebens eine rein aquatische Lebensweise bei, gehen demnach also nie an Land. Sie bevorzugen klare, kühle Berggewässer und ernähren sich hauptsächlich von Krebsen, Insekten, Würmern, Fröschen und Fischen sowie deren Laich. Tagsüber leben sie verborgen in Uferhöhlen oder ähnlichen Verstecken und gehen nachts auf Jagd.

Das Skelett des "armen Sünders" in einer Darstellung von 1731 au der Kupfer-Bibel von Scheuchzer.

 

Erwachsene Riesensalamander können mehr als zehn Kilogramm schwer werden und Körperlängen bis zu 1,5 Metern erreichen, womit sie rund um das Doppelte größer werden können als ihre nächsten Verwandten — die Schlammteufel Nordamerikas (Gattung Gryptobranchus). Letztere weisen übrigens im Knochenbau deutlich weniger Ähnlichkeiten mit den fossilen Riesensalamandern des europäischen Tertiärs auf, als dies bei den heutigen asiatischen Vertretern der Fall ist.

Typische Merkmale der Riesensalamander sind ein breiter, flacher und massiger Kopf mit seitlich stehenden winzigen Augen, der ebenfalls flache, breite Rumpf mit seitlichen Hautfalten sowie der relativ kurze Schwanz mit seinen hohen Flossensäumen. Die Haut der Tiere ist überaus glatt und schleimig, mit Warzen auf Kopf und Kehle.

Riesensalamander durchlaufen in ihrer individuellen Entwicklung eine unvollständige Metamorphose, d. h. sie bleiben Dauerlarven mit einer Teilumwandlung: Die äußeren Kiemen werden zwar zurückgebildet, aber die Augen bleiben lidlos; zudem bleiben die Zähne die einer Larve. Bei Andrias schließen sich die Kiemenlöcher und es bleiben zwei Kiemenbögen, während sich bei Gryptobranchus noch ein Paar offene Kiemenlöcher neben vier Kiemenbögen erhalten. Aufgrund dieser urtümlichen Merkmale zählen die Riesensalamander zu den stammesgeschichtlich primitivsten Schwanzlurchen.

Ganz urtümlich ist auch die Art der Befruchtung, die außerhalb des Körpers stattfindet: Das Männchen scharrt ein flaches Nest, in dem er nur ablagebereite Weibchen duldet. Das Weibchen legt nun zwei mehrere Meter lange Laichschnüre mit bis zu 500 je sechs Millimeter großen Eiern ab, die anschließend vom Männchen befruchtet und bewacht werden. Das Weibchen wird rasch vertrieben, da es anscheinend gern dem eigenen Laich nachstellt. Die Larven schlüpfen mit ca. drei Zentimetern Körperlänge nach 10-12 Wochen. Sie besitzen zu dieser Zeit äußere Kiemen, bereits zwei Finger an den Händen und schon angedeutete hintere Gliedmaßen. Im Alter von 18 Monaten - sie sind dann rund zwölf Zentimeter groß - verlieren sie ihre äußeren Kiemen, der Körper flacht sich ab und die Tiere gehen zum Bodenleben über. Sie verfügen nunmehr über atmungstüchtige Lungen und holen in unterschiedlichen Abständen an der Wasseroberfläche Luft. Übrigens bevorzugen Jungtiere offenbar eher die Oberläufe der Flüsse mit flachem Wasser, während ältere stromab in größere Flüsse wandern, wo sie lieber im tieferen Wasser leben. Extreme Trägheit bestimmt das Leben der Riesensalamander, das immerhin über fünfzig Jahre dauern kann.

 

Andrias - ein "lebendes Fossil"

Warum nur aber kann der Riesensalamander, insbesondere Andrias, als "lebendes Fossil" bezeichnet werden?

Ein wesentliches Kriterium hierfür wird durch den Umstand erfüllt, daß sein heutiges Verbreitungsgebiet lediglich Reliktareale darstellen, denn während er einst über ganz Eurasien verbreitet gewesen sein muß, verschwand er in Europa im ausgehenden Tertiär bzw. der älteren Eiszeit; nur in Teilen von Japan und China konnte sich die Gattung Andrias mit zwei Arten erhalten.

Ein weiteres Kennzeichen eines "lebenden Fossils" besteht in der Urtümlichkeit des Körperbaus bzw. der stammesgeschichtlichen Entwicklungsstufe, denn nachvollziehbare Unterschiede im Knochenbau lassen sich zwischen fossilen und rezenten Andrias-Exemplaren nicht feststellen.

Mag als kritischer Punkt, ob Andrias zu den "lebenden Fossilien" zu zählen ist, das relativ geringe erdgeschichtliche Alter dieser Gattung anzumerken sein. Zwar sind die ältesten Vertreter aus der Ordnung der Schwanzlurche bereits aus dem mittleren Jura (etwa 170 Millionen Jahre) Europas beschrieben, doch ist die Gattung Andrias selbst erst aus dem Jungtertiär bekannt. So könnte es vielleicht letztlich doch den einen oder anderen Zweifler geben, den die mindestens 14 Millionen Jahre nachgewiesene Existenz jener Gattung noch nicht lange genug ist, um den heutigen Riesensalamander als "lebendes Fossil" gelten zu lassen ?!



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letzte Änderung 05.12.1998 durch R. Leinfelder Copyright