Lebende Fossilien, Einleitungsartikel von V. Fahlbusch, Teil 2
Tier und Pflanze - alles zu seiner Zeit
Seit fast zweihundert Jahren ist bekannt, daß die Organismen sich während der langen erdgeschichtlichen Zeiträume ständig verändert haben. Dieses aus den oft genug sehr spärlichen fossilen Überresten zu rekonstruieren, ist eine schwierige und noch längst nicht abgeschlossene Aufgabe. Aber die groben Züge der Entwicklung sind uns aus den fossilen Dokumenten doch einigermaßen bekannt. Zu den wichtigen Erkenntnissen der Paläontologie auf der Grundlage der fossilen Überreste gehört danach, daß jeder Zeitabschnitt der Erdgeschichte seine eigene, für ihn kennzeichnende Tier- und Pflanzengesellschaft hat. Natürlich gibt es dabei in Abhängigkeit von den geographischen Räumen, also Meeren und Festländern mit ihren vielfältigen Unterschieden und Differenzierungen erhebliche Verschiedenheiten. Und schon immer gab es ganz spezielle, dem jeweiligen Lebensraum angepaßte Pflanzen- und Tier-Vergesellschaftungen, die wir Biozönosen nennen. Vor allem aber ist es wichtig zu erkennen, daß jede Zeit ihre eigene, freilich nach Lebensräumen verschiedene Tier- und Pflanzenwelt hat. Untersucht man die einzelnen Arten oder Artengruppen von Organismen aus den verschiedenen Zeitabschnitten der Erdgeschichte, so wird sehr schnell deutlich, daß sie letzlich das Ergebnis unterschiedlicher Entwicklungsgeschwindigkeiten sind. Damit erklärt es sich, daß einerseits sehr ursprüngliche und andererseits hoch entwickelte, oftmals an spezielle Umweltverhältnisse angepaßte Organismengruppen zur gleichen Zeit und nebeneinander vorkommen.
Das Spezialgebiet der Geologie/Paläontologie, das sich diese Besonderheit der Entwicklung der Organismen in Abhängigkeit von der Zeit nutzbar gemacht hat, ist die Biostratigraphie. Sie versucht, die langen Zeiträume der Erdgeschichte auf der Grundlage der Entwicklung der tierischen und pflanzlichen Organismen zu gliedern bzw. das jeweilige Alter bestimmter Gesteinssschichten aufgrund der darin enthaltenen Fossilien zu bestimmen.
Kehren wir nach unserem Abstecher zu der Entwicklungsgeschwindigkeit einzelner Organismengruppen und deren zeitlicher Verbreitung in der Erdgeschichte wieder zu dem paradoxen biologischen Phänomen der "lebenden" Fossilien zurück. Es ist nämlich jetzt nicht mehr so paradox und widersprüchlich. Allerdings muß man wissen, daß es für den Begriff "lebendes Fossil" keineswegs eine allgemein anerkannte oder wissenschaftlich begründete Definition gibt. Das war übrigens schon zu Darwins Zeit so. Die von ihm behandelten Beispiele zeigen nämlich sehr deutlich, welch unterschiedliche "Typen" darunter verstanden werden können.
Wie bereits erwähnt, gehören die heutigen Lungenfische einem altehrwürdigen Stamm der Fische an. Zwar zeigen die wenigen Überlebenden untereinander deutliche Verschiedenheiten und unterschiedliche Spezialisierungen: der südamerikanische Lepidosiren mehr als der afrikanische Protopterus, und beide zusammen mehr als der australische Neoceratodus. Sie stammen aber alle von gemeinsamen Vorfahren aus der Zeit des Devons ab (vor rund 400 Millionen Jahren). Damals waren sie besonders mannigfaltig und häufig. Gemessen an der langen und weiten Verbreitung in der Erdgeschichte stellen die wenigen heutigen Vertreter gewissermaßen letzte Repräsentanten einer in der Fossilgeschichte wichtigen Fischgruppe dar. Für den heutigen australischen Lungenfisch Neoceratodus sollte noch hinzugefügt werden, daß er erst 1870 entdeckt wurde, während seine nahe verwandten und sehr ähnlichen Vorläufer aus der Trias (vor ca. 230 Jahrmillionen) durch Fossilreste der Gattung Ceratodus den Paläontologen schon seit langem bekannt waren. Somit sind diese Tiere, auch wenn sie in weit voneinander entfernten Reliktarealen eher "zufällig" und "gerade noch" lebend anzutreffen sind, eigentlich mehr der fossilen als der heutigen, der rezenten Lebewelt zuzurechnen - wahrhaft übrig gebliebene, noch lebende Fossilien.
Ein ähnliches Beispiel mit einer vergleichbaren Fossilgeschichte, aber seit rund 100 Millionen Jahren für ausgestorben gehalten und erst 1939 lebend wiederentdeckt, ist der Quastenflosser Latimeria. Die aufregende Fossilgeschichte dieser Schwestergruppe der Lungenfische und vor allem ihrer lebenden Nachkommen soll wegen der Bedeutung für die höheren Wirbeltiere später ausführlicher behandelt werden.
Ganz anders verhält es sich mit Darwins zweitem "lebenden Fossil", dem Schnabeltier Ornithorhynchus. Es gehört zusammen mit dem Schnabeligel der kleinen, ganz ursprünglichen, aber zoologisch außerordentlich interessanten Gruppe der eierlegenden Säugetiere an, den Monotremata. Diese kommen heute nur noch in kleinen Populationen in der australischen Region vor und sind stark vom Aussterben bedroht. Sie sind durch zahlreiche ursprüngliche Merkmale gekennzeichnet (Eiablage, Schultergürtel, keine Zitzen, Form der Geschlechtsorgane) und damit von der Masse der höher entwickelten Säugetiere deutlich unterschieden. Im Gegensatz zu den zuvor besprochenen Lungenfischen ist die Fossilgeschichte der Monotremata allerdings fast völlig unbekannt. Und dennoch kann man sie mit Darwin durchaus als "lebende" Fossilien bezeichnen, denn sie zeigen Merkmale, die ein ursprüngliches Entwicklungsniveau repräsentieren, das die Säugetiere in der Zeit des Mesozoikums einmal durchlaufen haben müssen. Die heutigen Monotremata können trotz aller Spezialanpassungen als Modell eines ehemaligen Evolutionsstadiums der Säugetiere betrachtet werden. Und insofern dürfen sie sehr wohl ebenfalls als "lebende" Fossilien bezeichnet werden, auch wenn fossile Vorläufer selbst bisher nicht direkt bekannt sind.
Das Schnabeltier Ornithorhynchus, heute noch in Südostasien vorkommend. Als eierlegendes Säugetier repräsentiert es eine sehr ursprüngliche Entwicklungsstufe innerhalb der Säugetiere. Aus Mohr: Sammlung Naturkundlicher Tafeln.
Ein ähnliches, nicht minder interessantes Beispiel eines "lebenden" Fossils ist das heute in den Urwäldern Südostasiens beheimatete Spitzhörnchen Tupaia. In der Körpergestalt an Eichhörnchen erinnernd besitzt es einerseits Merkmale, die an eher ursprüngliche Säugetiere aus der Verwandtschaft der Insektenfresser (Igel, Spitzmaus, Maulwurf) erinnern. Andererseits lassen sich aber auch Kennzeichen beobachten, welche man sonst von Halbaffen, also ursprünglichen Primaten kennt. Über die tatsächliche Zuordnung dieses Tieres bestehen noch immer Zweifel, da es nicht ausgeschlossen ist, daß es sich bei den Primatenmerkmalen um sogenannte Parallelentwicklungen handelt, die nicht eine wirkliche Verwandtschaft mit den Primaten anzeigen. Aber dennoch dokumentiert auch dieses Tier ein Entwicklungsstadium, das uns gleich einem Modell vorführt, wie die frühe Entwicklung der Primaten aus den Verwandten von Insektenfressern - also quasi im fossilen Zustand - in der Zeit der Oberkreide vor rund 80-100 Millionen Jahren einmal abgelaufen sein könnte. So darf man auch Tupaia als "lebendes" Fossil betrachten, obgleich (bis jetzt) keine direkten fossilen Vorläufer bekannt sind.
Spitzhörnchen Tupaia, heutiges Südostasien. Mit Merkmalen ursprünglicher Insektenfresser und Primaten zeigt es einen Bauplan, wie man ihn bei Säugetieren vor 70 Millionen Jahren erwarten könnte. Aus Mohr: Sammlung Naturkundlicher Tafeln.
Trotz Ornithorhynchus und Tupaia als "lebende Fossilien ohne fossile Vorfahren" sind die wahrhaft aufregenden Vertreter jener Organismen, die man auch als "Oldtimer der Tier- und Pflanzenwelt" bezeichnen kann, diejenigen, welche ohne gravierende Veränderungen ihrer Gestalt und Lebensweise zig oder gar hunderte von Millionen Jahren unverändert überdauert haben und durch Fossilreste belegt sind. Sind sie es, die im Schatten der stammesgeschichtlichen Veränderungen und abseits der "vorteilhaften" Anpassungen an neue Lebensbereiche, an neue klimatische oder sonstige ökologische Bedingungen "von der Evolution vergessen" wurden?
Beispiele 'Lebender Fossilien' und ihre zeitliche Verbreitung in der Erdgeschichte, Aus Thenius 1965, verändert.
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In der Tat gibt es sowohl in der Pflanzen- wie in der Tierwelt eine nicht geringe Zahl solcher "Oldtimer". Ginkgo bei den Pflanzen, Lingula bei den Armfüßern (Brachiopoden), das "Perlboot" Nautilus bei den Weichtieren, der Pfeilschwanzkrebs Limulus bei den Gliedertieren (Arthropoden) oder die Brückenechse Sphenodon bei den Wirbeltieren sind geläufige Beispiele "lebender" Fossilien. Einige sollen anschließend in eigenen Kapiteln gesondert behandelt und in der Ausstellung mit Beispielen gezeigt werden. Sie lassen erkennen, daß es "lebende Fossilien" in allen größeren Tier- und Pflanzengruppen gibt. Vor allem aber sind sie oder ganz nahe Verwandte über lange geologische Zeiträume hinweg durch Fossilien belegt. Über Zehner oder gar Hunderte von Millionen Jahren zeigen sie eine nicht oder sehr wenig veränderte Gestalt: Limulus seit 150 Millionen Jahren und Lingula gar seit fast 500 Millionen Jahren. Das sind wahrhaft gigantische Zeiträume, in denen diese Organismen keine wesentliche Entwicklung erfahren haben. Sie behielten einen ursprünglichen Bauplan bei, ohne spezielle Anpassungen an besondere Lebensräume oder Ernährungsweisen, "unspezialisiert": Meister im Überdauern während geologischer Epochen.
Was das bedeutet, wird erst dann so recht klar, wenn man die großen Veränderungen betrachtet, die bei den Verwandten dieser "lebenden Fossilien" in oftmals viel kürzeren Zeitabschnitten zu beobachten sind: grundlegende Veränderungen des Lebensraum mit großen ökologischen Unterschieden, unter veränderten Klimaverhältnissen, bei deutlich verschiedenen Ernährungsweisen, abweichenden Fortbewegungsarten, und was sonst an Entwicklungen die einzelnen Tier- und Pflanzengruppen erfahren haben mögen. Das sind die allgegenwärtigen Prozesse der Evolution, die in ihrer komplexen Wirkungsweise die Organismen erfaßt und verändert haben und letztlich zu der großen Mannigfaltigkeit führten, für die sich neuerlich das Schlagwort "Biodiversität" eingebürgert hat. Gelegentlich werden solche höher- und hochdifferenzierten Stadien der Entwicklung als "fortschrittlich" bezeichnet - für die Beschreibung von Organismen ein gefährlicher, leicht mißverstandener Begriff.
Nicht so bei den "lebenden" Fossilien. Sie haben einmal erworbene Organisationsformen und Lebensweisen (im umfassenden Sinne des Wortes) bewahrt und entsprechende morphologische Merkmale beibehalten, oftmals an den Fossilresten über geologische Zeiträume hinweg fast unverändert erhalten. Darin drücken sich weitgehende oder gar vollkommene Anpassungen aus, mit denen sich diese Organismen in die Umgebung einfügen, unabhängig von kurzfristigen Änderungen der Umwelt, denen oft genug speziell angepaßte Formen nicht zu folgen vermögen, so daß ihnen nur das Aussterben bleibt.
"Lebende Fossilien" sind durch dauerhafte Organisationsformen gekennzeichnet. Sie gehören zur Vielfalt in der Welt der Organismen mit ihren ständigen Veränderungen, gleichsam als Maßstäbe der Entwicklung - alles andere als "von der Evolution vergessen".
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