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Online-Begleitartikel zur Sonderausstellung "Von der Evolution vergessen? - Lebende Fossilien


Der Ginkgo - Baum, ein Unikum mit Vergangenheit

von Prof. Dr. Walter Jung

Institut für Paläontologie und Historische Geologie
Ludwig-Maximilians-Universität München
Richard-Wagner-Str. 10
80333 München


Seit Darwins Zeiten gilt der Ginkgo-Baum als Paradebeispiel für ein "lebendes Fossil" aus dem Pflanzenbereich. Tatsächlich erfüllt er alle Kriterien, die gemeinhin von einem "living fossil" zu erfüllen sind: Es weist etliche altertümliche Merkmale auf, nennt eine lange Ahnenreihe sein eigen, besitzt nur mehr kleine reliktartige Wildvorkommen in China und — so muß man hinzufügen — hat eine ungebrochene Vitalität; eine Vitalität, die ihn befähigt, Bakterien- und Pilzbefall zu trotzen, stärkste radioaktive Strahlung und Feuerstürme zu überdauern und auch den Smog unserer Innenstädte zu ertragen. Deshalb findet der Ginkgo immer mehr den Weg aus der Isoliertheit Botanischer Gärten, höfischer Parks oder heiliger Tempelanlagen heraus in den Alltag als schmucker Alleebaum entlang abgasverseuchter Verkehrsadern.

Vieles am Ginkgo ist wirklich einzigartig, nicht nur seine isolierte Stellung innerhalb der "nacktsamigen Pflanzen", nicht nur sein auffallendes Fächerlaub oder sein Millionen Jahre zurückreichender Stammbaum; ziemlich einmalig ist auch seine jahrtausendalte bis heute andauernde Verknüpfung mit der menschlichen Kultur, obgleich für die Ernährung des Menschen eher unbedeutend.

 


Aber der Reihe nach!

Das besondere beginnt schon beim Namen. Fast alle Welt spricht von d e m Ginkgo, obwohl doch die Wissenschaft mit der Bezeichnung Ginkgo biloba ihm, respektive ihr, eine weibliche Endung verpaßt hat. Aber nicht genug mit dieser Ungereimtheit: Lange Zeit hat man in Fachkreisen vehement diskutiert, ob aus sprachlichen Gründen der Name nicht in Ginkyo zu ändern wäre. Dann ganz offensichtlich hat der Arzt und Forschungsreisende Engelbert Kämpfer, der 1712 unseren Baum anhand einer genauen Beschreibung in die europäische Gelehrtenwelt einführte, bei der Transkription aus dem Sinojapanischen einen Fehler gemacht, den Linné 1771 übernahm, als er den heute allein gültigen wissenschaftlichen Namen vergab.

Zunächst hatte die Wissenschaft auch Probleme mit der Einordnung des Ginkgo in das Pflanzenreich. Schon die feinnervigen, sonderbar fächerförmigen Blätter lassen eher an einen Farn denken denn an eine Samenpflanze. Diese Ähnlichkeit mit den Wedelabschnitten des Venushaarfarns Adiantum (engl. maidenhair fern), die bereits Kämpfer auffiel, gab ja Veranlassung für den englischen Namen, während für chinesisch-japanische Benennungen neben den charakteristischen Blättern ("Entenfußbaum", "Elefantenohrbaum") auch die reif mirabellfarbenen Samen ("Silber-" oder "Hügel-Aprikose") Pate standen.

Wedelchen des Farnes Adiantum; La Palma/Kanaren.
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Besonders in Aufregung versetzte die Botaniker 1896 die Beobachtung der geradezu riesigen männlichen Keimzellen des Ginkgo, deren Größe ca. 0,1 mm schon im Bereich der Wahrnehmbarkeit des menschlichen Auges liegt. Waren doch frei bewegliche männliche Keimzellen bei den Pflanzen bis dahin nur von Algen, Moosen und Farnen bekannt. Diese und andere Eigenschaften sind der Grund, weshalb der Ginkgo heutzutage als einziger Vertreter einer eigenen Klasse oder Unterabteilung innerhalb der "Nacktsamer" angesehen wird. So verwundert wohl nicht, daß der Ginkgo nach seiner "wissenschaftlichen Geburt" im 18. Jahrhundert zunächst zu den "plantae obscurae", also den Pflanzensonderlingen gestellt wurde, er andererseits später — bis 1897 — gleich Fichte, Kiefer und Tanne bei den Koniferen Aufnahme fand.

 

 

Ginkgo-Ast mit Herbstlaub; Nördlingen/Ries.
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Eine weitere sonderbare Eigenschaft der Ginkgo biloba ist die Ausbildung luftwurzelähnlicher Gebilde, die im fortgeschrittenen Alter hervorbrechen und nach Art von Stalaktiten von den stärkeren Seitenästen herabhängen, um schließlich bis zum Erdboden hinabzuwachsen. Diese Chi-chi genannte Erscheinung dient wohl der vegetativen Vermehrung.

In die Reihe der Merkwürdigkeiten fügt sich bestens ein, daß erst im 20. Jahrhundert von der Fachwelt die Möglichkeit eingeräumt wurde, die Vorkommen in den südöstlichen Provinzen Chinas könnten reliktäre Wildbestände sein.

Damit rückt die Fossilgeschichte des Ginkgo in unser Blickfeld. Unbestritten ist, daß die Ginkgo-Gewächse im weiteren Sinne bis in das ausgehende Erdaltertum vor rund 280 Millionen Jahren zurückzuverfolgen sind. Allerdings liegt der wahre Ursprung der Ginkgo-Verwandschaft immer noch im Dunkel, trotz der Vermutung, diese oder jene Pflanze aus dem Karbon oder Devon könnte ein erster Vertreter der Ginkgo-Klasse sein. Gesichert ist hingegen der Entfaltungsschwerpunkt der Ginkgo-Sippe im Erdmittelalter vor rund 150 Millionen Jahren. In diesem Zeitabschnitt waren die Ginkgo-Gewächse auf der Nordhalbkugel, aber auch auf der Südhemisphäre mit etlichen Gattungen und zahlreichen Arten, man schätzt über hundert, vertreten. Für noch mal rund 50 Millionen Jahre früher kann das Aufkommen der direkten Vorfahren des Ginkgo angesetzt werden. Fossile Blätter, die von der Form her von denen des heutigen Ginkgo nicht zu unterscheiden sind, finden sich dann in den Ablagerungen der beginnenden Erdneuzeit vor ca. 70 Millionen Jahren. Da kaum andere Organe zur Beurteilung zur Verfügung stehen, läßt sich trefflich darüber streiten, ob diese Ginkgo adiantoides der Tertiärzeit in Wahrheit nicht schon eine vorzeitliche Ginkgo biloba war. Jedenfalls war ein Ginkgo bis in das jüngste Tertiär hinein, bis in eine Zeit von weniger als fünf Millionen Jahre, ein Mitglied auch der Gehölzflora Europas, wo er in artenreichen Laubmischwäldern grünte. Um 1730 herum kehrte der Ginkgo durch Menschenhand wieder nach Europa zurück. Von den Botanischen Gärten in Utrecht und Leyden aus trat er seinen Siegeszug durch ganz Europa und die Neue Welt an.

Nicht weniger interessant als das, was uns die Biologie und Paläontologie zu erzählen weiß, ist die Rolle, die der Ginkgo in den verschiedenen Kulturkreisen der Menschen spielt. Es ist einsichtig, daß die ältesten Nachrichten über die Ginkgo biloba aus dem Teil der Erde stammen, in dem der Baum das Eiszeitalter überdauern konnte, aus dem östlichen Asien. Jahrhunderte bevor im September des Jahres 1815 Goethe sein bekanntes Ginkgo-Gedicht verfaßte, wurde dieser Baum dort bereits in Gedichten verherrlicht. Er galt in China und Japan bereits früh als heiliger Baum, um dessen Wunder- und Heilkräfte sich manche Legende rankt.

Blatt des Ginkgo adiantoides aus Bayern; Jung-Tertiär, Freising; Blattbreite 6,5 cm. Paläontologische Staatssammlung München. Photo F. Höck.

Dazu trug nicht wenig bei, daß Ginkgo-Bäume mitunter als einzige Feuer und Stürme überstanden. In Tempelanlagen stehen meist riesige Exemplare mit Höhen bis zu 50 Metern und einem Umfang bis zu 10 Metern. Solchen Riesen wird ein Alter von weit über Tausend Jahren zugeschrieben. Auch der berühmt gewordene "Atom-Bomben-Ginkgo" von Hiroshima steht in einem Tempelbereich. Diese heiligen Ginkgo-Veteranen werden vor allem von Frauen aufgesucht. Erinnern sie doch mit ihren Chi-Chi-Wucherungen an weibliche Brüste. Eine große Wertschätzung des Ginkgo spricht obendrein aus den Berichten, wonach die gerösteten Samen ("Nüsse") früher in China als Tribut dem Kaiser überbracht wurden. Seit dem 2. Weltkrieg wird auch bei uns vermehrt die Heilkraft der Inhaltsstoffe des Ginkgo erforscht, wovon eine umfangreiche Fachliteratur kündet. Voraus war naturgemäß Asien der westlichen Welt auch bei der Verwendung des Ginkgo-Blattes in der darstellenden Kunst. Denn in Ostasien werden schon seit Jahrhunderten Ginkgo-Motive verwendet, während in Europa erst der Jugendstil sich des Ginkgo annahm, eine Zuneigung der Künstler, die bis heute andauert.

 

Zählt man die botanische Eigenart des Ginkgo, seien lange Ahnenreihe, seine Vitalität, sowie seine Bedeutung in Kunst und Pharmazie zusammen, so scheint der Schluß nicht abwegig: Der Ginkgo ist ein Unikum im Pflanzenreich unseres Planeten, eben ein "lebendes Fossil"; und es wird verständlich, daß manche Leute sogar eine "Ginkgo-Manie" diagnostizieren, eine Sammelleidenschaft für Ginkgo-Gegenstände, die den erfaßt, der sich länger mit dem Phänomen Ginkgo biloba beschäftigt.

 

Ein Blatt des Ginkgo adiantoides; Alt-Tertiär, USA; Blattbreite 9,5 cm. Paläontologische Staatssammlung München. Photo F. Höck.
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letzte Änderung 05.12.1998 durch R. Leinfelder Copyright