Patientengeschichte

Akupunktur auf dem Zahnarztstuhl


"Tief Luft holen! - Pieks! - Und ausatmen!" spricht Zahnärztin Birgit Guizetti ihrer Patientin zu. Der Stich kommt in diesem Fall nicht von der Zahnarztspritze, sondern von einer Akupunkturnadel aus Gold. Sie ist nicht größer als eine Nähnadel und soll für 20 Minuten im Ohrläppchen von Gertrud Mutz* steckenbleiben. Der Zweck dieser Nadel ist auch nicht die Betäubung. Extrem starke Schmerzen führten die 63jährige Pensionärin vor einigen Monaten in die Zahnklinik der Freien Universität. Sie hatten sich nach dem Einsetzen einer neuen Zahnbrücke eingestellt. Als mögliche Ursache konnte in der Klinik zunächst nur ein "Zustand nach einem größerem prothetischen Eingriff" festgestellt werden. Daraufhin riet Guizetti der Patientin zu einer Akupunkturbehandlung. In diesem Naturheilverfahren hat sich die Zahnärztin und Oralchirurgin - so nennt man eine Zahnärztin mit chirurgischer Weiterbildung - zusätzlich ausbilden lassen.

Akupunktur ist in der chinesischen Medizin die Kunst, mit Nadeln die Energieströme des Körpers zu beeinflussen. Die Nadeln werden an charakteristischen Punkten der Körperoberfläche gesetzt. Diese Punkte haben selbst nicht direkt mit der kranken oder schmerzenden Stelle zu tun, sondern sind mit einem Blitzableiter vergleichbar. Sie leiten einen äußeren Reiz nach innen auf die sogenannten Meridiane weiter. Ein großer Teil der Akupunkturpunkte befindet sich an Händen, Füßen und Ohren.


Kleine Nadeln - große Wirkung: Die Zahnschmerzen von Gertrud Mutz konnten durch die Akupunktur-Behandlung von Dr. Birgit Guizetti deutlich gemildert werden.

"Als Zahnärztin habe ich vor allem Zugang zu Kopf und Händen des Patienten", erklärt Guizetti. Deswegen kann sie mit der relativ jungen Auriculo- oder Ohrmuschel-Akupunktur des französischen Arztes Nogier am besten arbeiten. Ursprung seiner Lehre ist die Entdeckung eines Heilverfahrens aus Nordafrika.Mit der Ohr-Akupunktur behandelt Guizetti eine ganze Reihe verschiedener Schmerzphänomene im Kiefer und in der Kieferhöhle - von zur Zeit acht bis zehn Patienten pro Woche. Zudem läßt sich manche "Zahnarztphobie" durch die beruhigende Wirkung der Nadeln vertreiben. Doch "als Ersatz der "Zahnarztspritze" lohnt sich diese vergleichsweise aufwendige Behandlungsform nur bei Patienten, die ein Lokalanästhetikum nicht vertragen", stellt die Zahnärztin klar. Dazu müßten die Nadeln vorher 20 Minuten lang elektrisch stimuliert werden.

Vor der eigentlichen Akupunktur von Gertrud Mutz führt Dr. Guizetti stets eine sorgfältige Abtastung der Akupunktur-Punkte an der Ohrmuschel ihrer Patientin durch. Und so fällt ihr auf, daß die Punkte in der Zone, die mit dem linken Unterkiefer korrespondiert, druckempfindlich auf das kleine zahnärztliche Instrument reagieren. Auch der Puls der Patientin beschleunigt sich. "Der Krankheitsprozeß", folgert Guizetti, "ist noch nicht zum Stillstand gekommen." Als die Zahnärztin zu anderen Untersuchungen am Ohr übergeht, fragt sie ihre Patientin: "Haben Sie ein Problem mit der Lunge?" Gertrud Mutz zögert mit der Antwort, bis die Ärztin präzisiert: "Auf der linken Seite?" Die Patientin bestätigt das und verweist auf die Untersuchungen ihres Hausarztes, der mit ihrem EKG nicht zufrieden ist.

Guizettis verblüffende Feststellung ist alles andere als Hellseherei: Theoretisch hat jedes innere Organ einen Korrespondenz-Ort am Ohr, vergleichbar mit den Fußreflexzonen. Damit könnte es vom Außenohr her diagnostiziert und auch therapeutisch "angesprochen" werden. Für Birgit Guizetti ist es sogar "eine Pflichtübung, auch andere Organe meiner Patienten per Aurikulodiagnostik zu betrachten". Denn dabei werden auch Störungen erkennbar, die mit dem Zahnschmerzproblem indirekt in Beziehung stehen können.

Zur Behandlung stecken in jedem Ohr von Gertrud Mutz zwei Nadeln. "Mein Körper verlangt geradezu nach diesen Nadeln", begeistert sich die eher zurückhaltende Dame. Das heißt natürlich nicht, daß sie "an der Nadel hängt", also suchtkrank ist. Vielmehr genießt sie die Befreiung von den Schmerzen und die Tatsache, daß sich ihr langjähriges Asthma-Leiden und ihr Allgemeinbefinden gebessert haben. Im Gegensatz zur Wirkungskurve eines Suchtstoffes wie etwa Heroin, die mit der Zeit abflacht, steigt die Wirkung dieser Nadeln immer mehr an. Bei Gertrud Mutz ist jetzt nach der zehnten Akupunktur mit einer sechs Monate anhaltenden Schmerzlinderung zu rechnen.

Sylvia Zacharias

* Name von der Red. geändert.

Informationen über Akupunktur-erfahrene Zahnärzte sind erhältlich bei der Deutschen Ärztegesellschaft für Akupunktur (Tel: 089-1596266) und bei der Deutschen Akademie für Akupunktur und Aurikulomedizin (089-8915310), beide haben ihren Sitz in München. Die Krankenkasse gibt auf Antrag einen Zuschuß zu den Kosten. Sie belaufen sich für eine 20minütige Behandlung in der FU-Zahnklinik auf 55,- Mark.


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