Das Thema: Promotionswesen in der Medizin

Eugenik als "Dienst an der Schöpfung"


Sabine Schleiermacher ist die erste Trägerin des Titels "Doctor rerum medicarum" am FU-Fachbereich Humanmedizin. Schleiermachers Dissertationsthema: "Sozialethik im Spannungsfeld von Sozial- und Rassenhygiene. Der Mediziner Hans Harmsen im Centralausschuß für die Innere Mission".

Dr. Sabine
Schleiermacher

"Seit meinem Magisterexamen faszinieren mich medizin-ethische und medizinhistorische Fragen", erläutert Dr. rer. medic. Sabine Schleiermacher ihre Beziehung zum Dissertationsthema. Sie ist "von Hause aus Theologin"; ganz wie ihr Namensvetter und Urahn, der Philosoph und Theologe Friedrich Schleiermacher.

Wie konnte es passieren, daß protestantische Sozialfürsorge sich in den Dienst menschenverachtender "Rassenhygiene" stellte? Wie kam es zur Mitwirkung der Diakonie am nationalsozialistischen "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" und zu dessen Ausführung, unter anderem der Zwangssterilisation, in den Behindertenanstalten der Inneren Mission? Diesen für Historiker, Theologen und Ärzte gleichermaßen wichtigen Fragen geht Schleiermachers Dissertation nach. Zentralfigur der Doktorarbeit Schleiermachers ist der Arzt Hans Harmsen. Harmsen leitete (1927 - 1937) das Referat Gesundheitsfürsorge im Centralausschuß für die Innere Mission (heute: Diakonisches Werk). Er führte auch (1925 bis 1942) die Geschäfte der überkonfessionellen Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung. 1939 habilitierte sich Harmsen am Hygienischen Institut der Universität Berlin. In der Bundesrepublik betätigte er sich weiterhin an "herausragender Stelle" in der Sozialpolitik, so auch als Begründer von Pro Familia.

Schleiermacher über Harmsen: "In der akademischen Debatte der 20er und 30er Jahre über den 'Wert des Menschen' formulierte Harmsen eine differenzierte Menschenwürde und baute ein entsprechendes Programm der 'differenzierten Fürsorge' innerhalb der evangelischen Kirche darauf auf". Als Maßstab für den Wert des Individuums galt Harmsen - wie anderen Bevölkerungspolitikern - die ökonomische Nützlichkeit. Wer als nicht in den Wirtschaftsprozeß integrierbar erschien, wurde für minderwertig erklärt und hatte keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Zur Absicherung dieses Aussonderungsprogramms diente Harmsen die Erbgesundheitslehre (Eugenik): allen ökonomisch unerwünschten Gruppen der Bevölkerung wie Behinderten, Kranken, sozial Unangepaßten und 'Fremdrassigen' wurden "ungünstige Erbanlagen" unterstellt. Durch eugenische Eingriffe wie die Zwangssterilisierung und die Asylierung sollte die Zahl der "Minderwertigen" gesenkt, die Erbanlagen "verbessert" und das wirtschaftliche Überleben der Nation gesichert werden.

Theologiekritisch zeichnet Schleiermacher die seltsame Verbindung nach, die Vererbungsbiologie und Schöpfungstheologie miteinander eingingen. Eugenik sollte sich in den "Dienst an der göttlichen Schöpfung" stellen, damit "erbliche Sünde und Schuld überwunden werden könne". Dabei verstrickte sich die Innere Mission so tief in die gnadenlose Utopie der nationalsozialistischen Machthaber, daß bald nur noch eine minimale Differenz übrig war: Jene beabsichtigte nur, "Einfluß auf die Gestaltung zukünftiger gesellschaftlicher Entwicklung zu nehmen (Sterilisation), während diese schon die gegenwärtige Gesellschaft vom minderwertigem Leben reinigen wollten (Euthanasie)."

Nach Abschluß ihrer Doktorarbeit kann sich Sabine Schleiermacher nun wieder den "Ärztinnen im Kaiserreich" zuwenden, ihrem politisch weniger brisanten Forschungsthema, das sie seit mehreren Jahren am Institut für Geschichte der Medizin erforscht.

Sylvia Zacharias


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