Psychotherapie

Zigaretten statt Alkohol?



Fast neunzig Prozent aller Alkoholkranken sind gleichzeitig von Tabak abhängig. Die herkömmlichen Entwöhnungskuren Alkoholkranker sind jedoch in aller Regel nur auf Alkoholabstinenz ausgerichtet. Einer Kombination wurde bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert nun für ein Jahr ein Projekt, das sich mit dem Problem mehrfacher Abhängigkeit beschäftigt.
Prof. Dr. Lutz G. Schmidt vom Fachbereich Humanmedizin des Universitätsklinikums Benjamin Franklin der FU befaßt sich mit der gleichzeitigen Abhängigkeit von Alkohol und Tabak. In seinem Forschungsprojekt prüft er die klinische und neurobiologische Hypothese: "Rückfallverhütung bei Alkoholabhängigen durch Zigarettenrauchen?" Schmidts Beobachtungen lassen den Schluß zu, daß eine Alkoholabstinenz bei Tabakkonsum größeren Erfolg verspricht. Aus diesem Grund lassen Therapeuten das Zigarettenrauchen bei ihren Patienten zu. Außerdem sind Therapeuten häufig selbst Raucher. Bestätigt sich Schmidts klinische wie neurobiologische Hypothese, so ergeben sich daraus Empfehlungen für eine Revision bisheriger Alkoholentzugsbehandlungen.
Schmidt führt seine Untersuchungen an rauchenden und nichtrauchenden alkoholabstinenten Patienten durch. Außerdem werden bereits prospektiv erhobene Daten durchgeführter stationärer Entgiftungs- bzw. ambulanter Entwöhnungsbehandlungen der ehemals von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Klinischen Forschergruppe "Abhängigkeitserkrankungen" ausgewertet. In der geplanten Untersuchung überprüft Schmidt die Hypothese, daß Tabakrauchen zur Rückfallverhütung Alkohlkranker beiträgt. Möglicherweise haben Raucher deshalb eine günstige Alkoholrückfallprognose, weil bei ihnen das neurobiologische Belohnungs- oder Wohlbefindlichkeitssystem flexibler und ansprechbarer ist als bei Nichtrauchern. In seinen Vorarbeiten ist Schmidt im Zusammenhang von Alkoholismus und Tabakabhängigkeit zu nachfolgenden Ergebnissen gelangt. Nach einer Alkoholentzugsbehandlung steigerten alkoholabstinente rauchende Alkoholabhängige tendenziell ihren Zigarettenkonsum. Auch wurden Raucher in aller Regel später alkoholrückfällig als nichtrauchende Alkoholkranke. Zudem zeigten Messungen, daß der Serotonin-Gehalt in Blutblättchen bei nichtrauchenden Alkoholkranken vermindert ist, bei rauchenden Alkoholkranken aber normale Werte erreicht.
Trotz der genannten positiven Effekte, die sich für Raucher ergeben, ist Schmidt der Auffassung, daß wegen der Gesamtprognose des Patienten doch dringend davon abgeraten werden sollte. Die körperlichen Gesundheitsschäden im Hinblick auf das Rauchen sind  denn auch viel gravierender als bei Alkohol. Amerikanische Forscher gehen davon aus, daß Rauchen die häufigste vorzeitige Todesursache ist. Die Deutsche Krebshilfe schätzt, daß in Deutschland ca. 90.000 Menschen an den Folgen des Zigarettenrauchens sterben. Im Vergleich dazu sterben 40.000 Menschen an den Folgen des Alkoholkonsums. Zigarettenrauchen ist damit die häufigste und zugleich am ehesten vermeidbare Krankheitsursache. Neuere wissenschaftliche Daten zeigen, daß ein großer Teil der Mortalitätsrate Alkoholkranker vor allem auf tabakbezogene Erkrankungen zurückgeht. Trotz dieser Erkenntnisse konzentrieren sich therapeutische Konzepte für rauchende Alkoholkranke praktisch ausschließlich auf die Alkoholentwöhnung. Ausgenommen in den USA, wo bereits erste Therapieprogramme entwickelt wurden, die sich beider Suchtformen annehmen. Dabei zeigt sich, daß Patienten, die sich in eine Alkoholentwöhnungstherapie begeben auch Interesse an einer Nikotinentwöhnung zeigen, ja sogar mit dem Rauchen aufhören können, ohne alkoholrückfällig zu werden. Allerdings gibt es kaum empirische Studien zu der Frage des Verhältnisses bzw. der gegenseitigen Beeinflussung von Nikotin- und Alkoholabhängigkeit. Schmidt empfiehlt eine gleichzeitige Entwöhnung von Nikotin und Alkohol.

Sylvia Marschall


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