Literaturwissenschaft

Ekel



Ekel - Jeder kennt ihn - keiner will ihn. Im Gegensatz zum Grauenhaften, Häßlichen und Schrecklichen hat sich dem Ekel bisher niemand wissenschaftlich genähert.
Eine erste umfassende Bearbeitung von Funktion und Geschichte des Ekel in  Ästhetik, Philosophie und Literatur liefert nun Professor Dr. Winfried Menninghaus vom Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft am Fachbereich Germanistik der FU. Die  Ergebnisse seiner Forschungen liefern zentrale Bausteine zur Theorie und Geschichte des Ekels. Sie geben auch Auskunft über einschlägige Autoren wie beispielsweise Winckelmann, Herder, Lessing, Kant, Nietzsche, Kafka und über die besondere Rolle des Ekelhaft-Schleimigen in der semifantastischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts.
In Grimms Deutschem Wörterbuch ist Ekel definiert als eines der auffallendsten Wörter unserer Sprache: Heute feststehend, war es seinerzeit "unerhört" und ist in den übrigen deutschen Sprachen fast nirgends aufgetreten. Dank der Herausbildung einer autonomen Wissenschaft der Ästhetik und des "klassischen" Kunstideals wurde diesem "unerhörten" und "auffallendsten" Wort erstmals Eingang in eine Theoriesprache gewährt. Diese wies dem Ekel die Stellung der einzigen, für die ästhetische Erfahrung absolut unverdaulichen Empfindung zu. Der Ekel bildet den negativen Gegen- und Grenzwert zum Feld des Gefallens.  Ästhetik ist das Feld jenes "Gefallens", dessen schlechthin Anderes der Ekel ist. So lautet die kürzeste und einzig unumstrittene Basisdefinition des "Ästhetischen" bei Mendelssohn, Hagedorn, Lessing, Herder, Winckelmann und J. E. und J. A. Schlegel.
Das leitende Beispiel für ästhetische Schönheit, aber auch für das Ekelhafte bietet der menschliche Körper. Das Ideal des Schönen ist der klassische Statuenkörper und der menschliche Körper überhaupt, trotzdem kann an jedem Körperteil der Ekel auftreten. Zu einem ästhetischen Körper gehören z. B. eine schlanke Figur ohne Fettansätze, tadellose jugendliche Festigkeit sowie eine falten- und öffnungslose Linienführung der Haut. Als "ekelhaft" gelten Falten, Runzeln, Warzen, sichtbare oder zu große Körperöffnungen, austretende Körperflüssigkeiten wie Nasenschleim, Eiter oder Blut und das Alter. Das Ausschließen dieser "Defekte" begleitet nicht nur, es begründet und instituiert das neue Ideal. Als Hauptgrundlage für dieses Kapitel dienen Winckelmanns "Gedanken" und seine große "Geschichte der Kunst des Altertums", Lessings "Laokoon" sowie Herders "Plastik".
Menninghaus geht in seiner Studie von der Annahme aus, daß sich gerade an Ausschluß sowie an Wiederkehr und Prozessierung des ausgeschlossenen "Ekel" wesentliches über Entstehung und Sein des Ästhetischen ausmachen läßt. Seine Arbeit stellt ein formales Äquivalent zu Nietzsches berühmter Lesart des schönen Scheins als Verwindung eines dionysischen Untergrunds von Rausch, Ekstase und Depersonalisierung dar. Ekel wäre, nach dieser Analogie, eine Art Umkehrung ins Negative. Wer einmal den dionysischen Rausch durch den Schein hindurch wahrgenommen habe, den ekele es fortan an dieser Wirklichkeit: denn er habe "das wahre Wesen der Welt" erkannt. Die Formel - "Es ekelt mich, also habe ich erkannt" - zieht sich wie ein geheimer Leitfaden durch Nietzsches Werk.
Die Analyse von Menninghaus verbindet - je nach Zeitraum und Gegenstand in unterschiedlicher Mischung - gesellschafts- und zivilisationstheoretische mit psychoanalytischen Lesarten und Perspektiven. Abschließend werden kritische Fragen an den seit 10 Jahren in den USA zu beobachtenden Diskurs einer "affirmative Abjection", einer Verwerfung der Verwerfung und Gegenbesetzung des Verworfenen gestellt (Stichwort: "abject art"). Um davon und von vielem anderen mehr zu erfahren, warten wir auf Menninghausâ Funktion und Geschichte des Ekels.

Sylvia Marschall


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