Brief aus Rom


Die quietschende und ratternde Blechlawine schiebt sich über den Tiber. Das Gewimmel aus drängenden Autos, zickzackschlagenden Motorinis und schweren Autobussen ist von der Ampel kaum aufzuhalten. Nur wenige Sekunden Stillstand und schon schießen die ersten Zweiräder vorwitzig über die Kreuzung. Auch ich setze mich in Bewegung und trete kräftig in die Pedalen. Sobald sich mein Fahrrad dem stürmischen Verkehrsfluß angepaßt hat, läßt man mich gewähren. Ob unbekanntes Flugobjekt oder verirrte Fahrradfahrerin - die Gelassenheit der Römer ist durch nichts zu erschüttern. Täglich gilt es, den Zusammenbruch des Verkehrs abzuwenden. Stellen wir uns Berlin ohne U-Bahn vor. Dazu ein Straßennetz, das gebaut wurde, als sich die Bewohner der Stadt noch zu Fuß oder mit dem Pferdekarren fortbewegten. Das Verkehrschaos in Rom macht die Formel des produktiven Chaos plausibel: Allein die Mißachtung von Ampeln und sonstigen Verkehrsregeln, ist imstande zu regeln, was nicht mehr zu regeln ist, den römischen Verkehr. Ich lasse die morgendliche "rush hour" hinter mir und verschwinde in dem mittelalterlichen Straßenlabyrinth des centro storico. Über Kopfsteinpflaster geht es weiter durch die engen sonnendurchtränkten Gassen. Die Werkstätten der Schreiner sind schon geöffnet. Tische stehen in der frischen Morgenluft. Flinke Hände hantieren mit Beize. Aus einer Polsterwerkstatt tönt ein vorsichtiges Hämmern. Die Begegnung mit der motorisierten Gesellschaft des 20. Jahrhunderts ist vorüber. In verwaschenem Braun, Rot und Gelb heben sich die Häuserfassaden von dem klaren Herbsthimmel ab. Der Anblick verführt meine angegriffenen Sinne. Der heitere Morgen wispert mir das Elexier römischer Lebensart zu: "non ti preoccupare!" (reg dich nicht auf!) oder auch "divertiti!" (amüsier dich!). Aber dafür ist es wohl noch etwas zu früh...


Von Anja Riebell/ z.Zt. Rom


Es ist neun Uhr und ich bin auf dem Weg zur Arbeit. Seit September diesen Jahres mache ich ein Praktikum in der Fondanzione Internazionale Lelio Basso. Die Internationale Lelio Basso Stiftung wurde gegründet, um das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das in der Erklärung von Algier vom 4. Juli 1976 ausgerufen wurde, zu vertreten.

In der Stiftung angekommen, weichen dann die römischen Eindrücke globaleren Dimensionen. Als erstes beginne ich, die elektronische Post zu sichten. Ein gewisser Paulo Emlio aus Brasilien fragt nach Informationen zum Internationalen Lelio Basso Preis. Der e inmalig vergebene Preis ist mit der Aufforderung verbunden, Vorschläge für einen alternativen Sozialismus einzureichen. Die Anfrage wird von meiner italienischen Kollegin Daniela mit einem strahlenden Lächeln quittiert, denn in wochenlanger Arbeit hatte si e kistenweise Briefe an Journalisten und Wissenschaftler in die ganze Welt verschickt. Aber die Mühe hatte sich gelohnt: Wie Paulo Emlios Nachfrage zeigt, beginnt nun auch in Lateinamerika die "kollektive Suche" - so der vom Stiftungsgründer Lelio Basso geprägte Begriff.

Die nächste E-mail kommt aus Deutschland. Frau Müller-Plantenberg aus Kassel bittet um Entschlüsselung einer E-mail, die ich ihr zugesandt hatte. Meine Anfrage bezüglich des "Entwicklungsexperten 2000" besteht nur noch aus geheimnisvollen Buchstaben- und Zahlenkombinationen, und meine These von der zunehmenden Nachfrage nach interdisziplinär ausgebildeten Experten ist zum Datensalat degeneriert. So können mir die angemailten Entwicklungs- und Umweltorganisationen wohl kaum ihre Vorstellungen zu den Anforderungen an heutige Entwicklungsarbeit mitteilen.

Und gerade bei dieser Nachfrage, bei der eine wichtige Initiative der Lelio Basso Stiftung ansetzt! Schöne Bescherung...

Meine Recherche nach dem Profil des neuen Entwicklungsexperten gehört nämlich zu den vorbereitenden Aktivitäten eines neuen Studiengangs, dem Masterstudiengang "Umwelt, Entwicklung und Selbstbestimmungsrecht", und die Vorbereitungen laufen bereits auf Hochtouren. Neben der Lelio Basso Stiftung sind die Universitäten Brüssel, Neapel, Tarragona, Barcelona und auch die FU Berlin beteiligt. Das Otto-Suhr-Institut will sich mit seinen Lehrressourcen an dem interdisziplinären Studiengang beteiligen.

Die Anlaufschwierigkeiten meiner Recherche sind nur ein Beispiel, wofür man die guten Dienste römischer Glassenheit in Anspruch nehmen sollte. Die erste verwertbare Stellungnahme kommt dann von der Österreichischen Forschungsstiftung für Entwicklung. Herr Oblosky berichtet, daß österreichische Unternehmensberater gerade den Bereich Entwicklungsarbeit entdeckt hätten. Das Zauberwort der betriebswirtschaftlichen Sanierung hätte nun auch die alternativen Projekte erreicht. Gleichzeitig würde der Internetanschl uß die Beantwortung der Globalisierungsprobleme übernehmen. Der Entwicklungsexperte 2000 wäre deshalb sehr zu begrüßen. In der Realität gäbe es aber diesen "Wunderwuzzi" leider nicht, so die Meinung aus Wien.

Der Ruf meiner Kolleginnen holt mich pünktlich zur nächsten "rush hour" wieder nach Rom zurück. In der Bibliothek sind bereits gefüllte Salatschüsseln, Mandarinen und Ricotta aufgebaut. Vor dem Haus stauen sich einige Autos. Ein wütender Zweiradfahrer hupt . Ein großer Teil der Römer legt nun für ein paar Stunden die Arbeit nieder, um mit seiner Familie zu essen. Unterdessen sind die Geschäfte geschlossen. Die Stadt bleibt den deutschen, japanischen und englischen Besuchern überlassen. Ich mache einen Spazie rgang zum Piazza Navona. Der große Brunnen in der Mitte des Platzes ist abgesperrt. Ein paar Engländer haben ihn demoliert; sie wollten wohl ein authentisches Souvenir aus der ewigen Stadt. Die Straßenzeichner sitzen gelangweilt neben ihren Ausstellungsstü cken. Die spanische Treppe, das Colosseum und das Foro Romano sind neben Lady Di und Claudia Schiffer ihre Lieblingsobjekte.

Auf dem Rückweg trinke ich eine Kaffee im S. Eustachio. Angeblich gibt es hier den besten Kaffee Roms. Auf jeden Fall besteht der Umsatz zu neunundneunzig Prozent aus cappuccino, caffé latte, caffé, etc. Für 1,30 DM gibt es einen Espresso. Mit meinem Bon p ostiere ich mich an dem langen Stehtresen. Es gibt keine Stühle. Der Barkeeper ist schon am Zubereiten und fragt, wieviel Zucker ich möchte. Ein schneller Schluck und die nächsten warten bereits auf meinen Platz am Tresen.

Zurück in der Lelio Basso Stiftung, berate ich meine Kollegin Rita, die gerade bei der Erstellung unserer Website ist. Tag für Tag fügt Rita neue englische, französische, spanische oder portugiesische Texte in die Datenbaustelle ein - die Freunde der Stift ung sprechen viele Sprachen... Wenn diese allerdins tatsächlich zusammentreffen, dann muß improvisiert werden. Professor Raul Rojas zum Beispiel hat als Erfinder des Itagnolo, einer italienisch-spanischen Mischsprache, Bewunderung geerntet. Der Mexikaner, der an der FU Informatik lehrt (führen alle Wege nun eigentlich nach Rom oder in die FU?), war vor wenigen Wochen für die Stiftung tätig. Als Refernt einer Seminarreihe, die die Lelio Basso Stiftung veranstaltete, sprach er vor italienischen Politik-, Jura- und Soziologiestudenten. Im Rahmen der Seminarreihe zur "Einführung und Spezialisierung im Selbstbestimmungsrecht der Völker" wurde die Entwicklung des Intenets und seine weltweiten Auswirkungen diskutiert. Statt eines Dolmetschers einigten wir uns auf das besagte Itagnolo. Von tatkräftigen Zurufen des studentischen Publikums unterstützt, klärte uns Professor Rojas über die Untiefen des Zahlungsverkehrs im Internet auf.

Am Ende des Arbeitstages ist über Rom schon die Dunkelheit eingebrochen. Ein goldgelber Schimmer legt sich über die Stadt und die beeindruckende Illumination vertreibt die letzten Anzeichen des modernen Roms. Jetzt fehlt nur noch das Knirschen von Holzräde rn...Am Tiber ragt das Castello S. Angelo erhaben in den Nachthimmel. Vor dem Petersdom throhnen die hell erleuchteten Heiligenfiguren über den dunken Kolonaden. In römischer Gelassenheit wartet der inzwischen menschenleere Petersplatz auf den nächsten Ein fall der Touristen - wenn die kleinen Holztore am nächsten Tag wieder geöffnet werden.

Anja Riebell studiert Politologie am Otto-Suhr-Institut der FU und zusätzlich seit drei Jahren Italienisch. Seit September macht sie ein dreimonatiges Praktikum bei der Internationalen Lelio Basso Stiftung für das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Sie hof ft, durch dieses Praktikum Anregungen für ihre Diplomarbeit zu finden.


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