Volkstheater in Lateinamerika

Die Volkswagen-Stiftung fördert ein Projekt der FU-Theaterwissenschaftler


Ein neues Forschungsprojekt am Theaterwissenschaftlichen Institut der Freien Universität Berlin untersucht "Struktur und Funktion interkultureller Austauschprozesse im zeitgenössischen Volkstheater Perus, Kolumbiens und Mexikos - Theater als ein Modell interkulturellen Verstehens". Die Volkswagen-Stiftung fördert das von Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte geleitete Projekt im Rahmen des Schwerpunktprogramms "Das Eigene und das Fremde".

Straßentheater auf dem Marktplatz von Santa Anita, einem der armen Vororte von Perus Hauptstadt Lima: Die Schauspielerin Luisa Hu^man spielt ein Indio-Mädchen. Ihr Haar ist in schwarze Zöpfe gebunden. Sie hat eine buntbestickte Bluse an und mehrere Röcke übereinandergezogen - die traditionelle Kleidung der Frauen aus der Anden-Region. Dazu trägt sie Plateauschuhe, ein Baseball-Cap, einen Rucksack und westlichen Modeschmuck. Ein ungewöhnliches Kostüm - der Einfluß einer anderen Kultur ist nicht zu übersehen. "La chica fresca" ist eine der vielen peruanischen Volkstheater-Inszenierungen, in denen Elemente der traditionellen Kultur mit jenen fremder Kulturen vermischt werden.


Das neue Forschungsprojekt

Wie die Einverleibung des Fremden in das Theater konkret vor sich geht und wie Theatermacher verfahren, um die besondere Wirkung des Fremden zur Entfaltung zu bringen, untersucht nun ein neues Forschungsprojekt am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität. Struktur und Funktion der interkulturellen Austauschprozesse im zeitgenössischen Volkstheater Perus, Kolumbiens und Mexikos werden anhand exemplarischer Aufführungen der drei Länder analysiert. Das auf vier Jahre ausgelegte Projekt wird von der Volkswagen-Stiftung mit 720.000 DM gefördert.

Das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen an einem Ort ist charakteristisch für Lateinamerika und wird im zeitgenössischen Volkstheater reflektiert und verarbeitet, wie auch in "La chica fresca" von der Straßentheatergruppe "Màs y màs". Die Inszenierung dreht sich um die Erlebnisse einer jungen Frau, die bis zu ihrem 13. Lebensjahr nur ihr Heimatdorf in den Bergen bei Huancayo kannte. Es ist noch nicht lange her, da kam sie auf dem Busbahnhof in Lima an. Nun lebt die "cholita" in einer der Elendssiedlungen der Landflüchtigen und muß sich allein in der Riesenstadt durchschlagen.

Luisa Hu^man mischt in ihrem Monolog Spanisch und Quechua, die Sprache der Indios. Hin und wieder schiebt sie ein englisches Wort ein. Die Figur wirkt mal blitzgescheit und kess, dann wieder schüchtern und naiv. Immer wieder unterbricht sie ihr Spiel und kommentiert die jeweilige Szene in Brecht-Manier durch Lieder: "Chicha" heißt diese Mischung aus "Huaynos", den traditionellen Tänzen der Anden-Region, und westlicher Rockmusik, die die Zuschauer auf dem Marktplatz in Begeisterung versetzt.


Modernisierung des 'teatro popular' seit den 70ern

Lateinamerikanische V olkstheatergruppen gehen heutzutage selbstbewußt und produktiv mit den Traditionen und Entwicklungstendenzen des Theaters anderer Kulturen um, indem sie diese erproben, verwerfen oder unter anderen Prämissen adaptieren. Das war nicht immer so. In den 70er Jahren hatte man in Peru begonnen, das 'teatro popular' zu modernisieren - durch einen bewußt vollzogenen interkulturellen Austausch. Theatermacher und Publikum hatten erkannt, welche Defizite die in ihrer Kultur historisch herausgebildete Form des Volkstheaters aufwies. Vergleichbare Tendenzen waren in anderen Ländern Lateinamerikas zu beoachten und haben sich bis in die 90er Jahren immer weiter ausgebreitet.


Die Verarbeitung des gesellschaftlichen Wandlungsprozesses im Volkstheater

Es ist gerade dieser Zusammenhang zwischen dem dramatischen Wandlungs- und Modernisierungsprozeß Lateinamerikas in den letzten 20 Jahren und den interkulturellen Austauschprozessen im 'teatro popular', der die Berliner Wissenschaftler interessiert. Sie gehen dabei von der Prämisse aus, daß das lateinamerikanische Volkstheater die neue Wirklichkeit nicht einfach nur mit künstlerischen Mitteln nachvollzieht. Um die nun relevanten Prozesse in der Gesellschaft theatralisch zu verarbeiten, suchen Theatermacher - durchaus widerstreitend - nach neuen Wegen und Lösungen und erproben diese mit unverbrauchten, aber adäquaten Mitteln.

Nachdem die Defizite des eigenen Volkstheaters erkannt waren,- für diese neuen Aufgaben war es kaum mehr geeignet - begann ein Prozeß der Umorientierung und Umstrukturierung, der die Bereitschaft und Fähigkeit der Theatermacher wachsen ließ, mit den Tradit ionen anderer Theaterkulturen zu experimentieren - immer mit dem Ziel, neue Arten der Wahrnehmung und theatraler Ausdrucksmöglichkeit zu finden.

Das Theater treibt also - so die These der Berliner Wissenschaftler - die kulturelle Entwicklung selbst voran, und bildet damit ein Modell, das sich auf andere ebenfalls im Wandel begriffene Bereiche übertragen läßt. Inwieweit neuere Theorien und Erklärungsmodelle lateinamerikanischer Kulturwissenschaftler, die von der wachsenden Hybridisierung der verschiedenen Kulturen Lateinamerikas und der eigenständigen Modernisierung der "culturas populares" ausgehen, auf die interkulturellen Austauschprozesse im Volkstheater zutreffen oder modifiziert werden müssen, wird in diesem Zusammenhang zu überprüfen sein.


Versuch eines Modells

Die Ergebnisse dieser empirischen Untersuchungen, die mit Theater- und Kulturwissenschaftlern der drei Länder gemeinsam erarbeitet werden, sollen die Bildung eines Modells für die interkulturellen Austauschprozesse des Theaters der verschiedenen Kulturen L ateinamerikas ermöglichen. In einem letzten Schritt wird dieses Modell dann auf ausgewählte Phänomene des Interkulturellen im Theater der Kulturen Europas, Asiens, Nordamerikas und Afrikas bezogen und auf seine Besonderheit einerseits und seine Vergleichba rkeit andererseits hin überprüft.

Christina Engel


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