Generationen im Einklang? Erwachsene Kinder und ihre Eltern

Eine Beziehung - lebenslang


"Doch auf der Hälfte des Weges blieb Claire stehen und kam zur Bar zurück. Sie schob ihre Sonnenbrille hoch und vertraute mir an: 'Weißt du, ich glaube allen Ernstes, daß Gott, wenn er Familien zusammenstellt, seinen Finger ins Telefonbuch steckt und aufs Geratewohl eine Gruppe von Leuten auswählt, denen er dann mitteilt: 'He! Ihr werdet die nächsten siebzig Jahre miteinander verbringen, auch wenn ihr nichts gemein habt und einander noch nicht einmal mögt. Und wenn ihr euch nur für eine Sekunde nicht um jeden dieser Gruppe von Fremden kümmert, werdet ihr euch entsetzlich fühlen'. Das ist es, was ich darüber denke. Was denkst du?'."

"Die Jugend liebt heute den Luxus, sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor älteren Leuten und plaudert, wo sie arbeiten sollte. Sie verschlingt die Speisen, legt die Beine übereinander und tyrannisiert ihre Eltern."


Mitunter zeigt es sich bei Familienfesten, daß sich "eine größere Beziehungsqualität gerade durch offen ausgetragene Konflikte ausdrücken" kann

Was Douglas Coupland, der Autor von Generation X, aus der Perspektive der Kinder äußert und Sokrates aus der Perspektive der Eltern, müßte eigentlich zu der Schlußfolgerung führen, daß erwachsene Kinder und ihre Eltern ziemlich flüchtige Beziehungen miteinander unterhalten. Man könnte beispielsweise annehmen, daß die Eltern-Kind-Beziehungen nach dem Auszug der Kinder aus dem Elternhaus - etwa nach der Floskel "Aus den Augen, aus dem Sinn" entweder völlig abbrechen oder zumindest sehr schwach werden. Man könnte meinen, daß die 'strukturelle Isolation der Gattenfamilie' (Talcott Parsons) nach dem Auszug aus dem Elternhaus, mit der Unabhängigkeit der Kinder von den Eltern, zu Vereinsamung und Entfremdung zwischen den Generationen führt.

Für die heutige Bundesrepublik Deutschland läßt sich das Gegenteil feststellen: Obwohl das Wort vom 'Krieg der Generationen' sicherlich auf einige intergenerationale Beziehungen zutrifft, so ist es jedoch für die große Mehrheit der Eltern-Kind-Verhältnisse keinesfalls angemessen. Die allermeisten Eltern berichten von mindestens engen Beziehungen zu ihren Kindern. Umgekehrt haben auch die meisten erwachsenen Kinder ein zumindest enges Verhältnis zu ihren Eltern. So stellen 92 Prozent der Mütter fest, daß sie eine enge Beziehung zu ihrer Tochter haben, und immerhin 83 Prozent der Väter berichten von einem engen Verhältnis zu ihrem Sohn. Die Beziehungsqualität zwischen Geschwistern und anderen Verwandten ist im Vergleich dazu wesentlich geringer. Ähnlich hohe Werte wie bei den Eltern-Kind-Beziehungen werden lediglich bei den Großeltern-Enkel-Verhältnissen erreicht. Dies ist jedenfalls eines der Hauptergebnisse einer empirischen Untersuchung, in der über 7.000 Eltern-Kind- und etwa 11.000 Kind-Eltern-Beziehungen von Ostdeutschen, Westdeutschen und Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland betrachtet wurden. Einbezogen sind solche Eltern und Kinder, die nicht mehr im selben Haushalt leben (Datenbasis: Sozio-ökonomisches Panel).

Damit soll jedoch nicht unterstellt werden, daß es bei einem engen Verhältnis keine Konflikte gibt. Eine größere Beziehungsqualität kann sich gerade durch offen ausgetragene Konflikte ausdrücken bzw. auf diese zurückzuführen sein. So spricht beispielsweise Helm Stierlin von einem "liebevollen Kampf", der zu einer "gegenseitige(n) Befreiung im Kontext dieses Generationskonflikts" führen könne. Familiale Generationenbeziehungen können aber auch zu eng sein (z.B. unselbständige erwachsene Kinder, die sich nicht von ihren Eltern lösen können bzw. Eltern, die zu sehr klammern). Aber auch wenn Konflikte auftreten, so führen diese offenbar nur selten zu Entfremdungen bzw. zu einer Aufgabe der Generationenbeziehungen.

Interessant ist vor allem auch, daß Eltern und erwachsene Kinder bei der Bewertung ihrer Beziehung nicht übereinstimmen. Wenn Eltern meinen, ein sehr enges Verhältnis zu ihren Kindern zu haben, so muß diese Ansicht nicht von den Kindern geteilt werden. Eltern tendieren generell dazu, das Ausmaß ihres Verständnisses für die Ansichten der Kinder und ihres gegenseitigen Einvernehmens sowie die Enge der Beziehung insgesamt eher zu überschätzen ('Intergenerational Stake' Hypothese). Vern L. Bengtson und seine Mitarbeiter gehen davon aus, daß die Generationen unterschiedliche Interessen haben und unterschiedliche Investitionen in die Beziehung tätigen ("different investment or 'stake' in the relationship"). Eltern seien dabei eher an der Kontinuität von Werten interessiert, die sich für ihr eigenes Leben als wichtig herausgestellt haben sowie an einer engen Beziehung zu der Familie, die sie gegründet haben. Eltern tendierten also dazu, die intergenerationale Solidarität überzubetonen und Konflikte mit ihren Nachkommen herunterzuspielen. Junge Erwachsene seien hingegen mehr daran interessiert, sich von ihren Eltern, auch hinsichtlich von Werten und Sozialbeziehungen, abzugrenzen. Sie tendierten also dazu, die intergenerationale Solidarität unter- und die intergenerationalen Konflikte überzubewerten. So ergaben z.B. Einzelfalluntersuchungen der sogenannten Berkeley-Studien, daß sich Kinder bis hinein in die mittleren Jahre an Frustrationen und Spannungen erinnerten, die sie in der Kindheit, während der Pubertät und im frühen Erwachsenenalter erlebt hatten. Diese Kinder erinnerten sich auch häufig an erfahrene Ablehnung durch ihre Eltern, wohingegen sich die Eltern oft auf die späteren Erfolge der Kinder bezogen. Die Auswertungen für die Bundesrepublik Deutschland bestätigen jedenfalls die 'Intergenerational Stake' Hypothese: Erwachsene Kinder berichten deutlich seltener von engen Beziehungen zu ihren Eltern als umgekehrt.

Gleichzeitig sind die Generationenbeziehungen von Frauen im allgemeinen wesentlich enger als die von Männern. Mütter und Töchter haben generell das engste Verhältnis, danach folgen die Beziehungen zwischen Müttern und Söhnen, Vätern und Töchtern sowie Vätern und Söhnen. Das heißt, daß zunächst das Geschlecht der Eltern bedeutsam ist. Auch dies ist ein Beleg dafür, daß die Funktion der familialen Integrationsfigur ('kinkeeper') vornehmlich von Frauen erfüllt wird. Dabei kümmern sich Frauen generell nicht nur mehr um ihre Verwandten, sondern sie unterhalten auch insgesamt engere persönliche Beziehungen.

Ostdeutsche Familienbeziehungen sind prinzipiell enger als westdeutsche. Eine Erklärung hierfür liegt in der geringeren räumlichen und (insbesondere für die jüngeren Jahrgänge) sozialen Mobilität in der DDR, die die Generationen weniger voneinander trennte. Zweitens sind in einer Gesellschaft mit knappen allgemein verfügbaren Gütern engere soziale Beziehungen schon allein aufgrund des Zugangs zu Tauschnetzwerken bedeutsam. Drittens impliziert das Bild von der Nischengesellschaft mit dem Rückzug der DDR-Bürger ins Private eine größere Bedeutung der familialen Beziehungen. Dies gilt umso mehr, wenn man die Familie als eine Art 'Notgemeinschaft gegen das System' begreift.

Was die Ursachen für ein engeres oder flüchtigeres Verhältnis zwischen den Generationen angeht, so zeigt sich beispielsweise, daß erwachsene Kinder und Eltern, die nicht weit entfernt voneinander wohnen, vergleichsweise enge Bindungen aufweisen. Größere Bedürfnisse aufgrund eines geringeren Lebensstandards oder schlechteren Gesundheitszustands verringern sogar die Enge der intergenerationalen Beziehungen, wohingegen emotionale Bedürfnisse eher zu engeren Verhältnissen führen. Konfessionslose weisen generell weniger enge Verhältnisse zu den Verwandten der anderen Generation auf als Kirchenmitglieder, was für die tatsächliche Relevanz von entsprechenden expliziten und impliziten Ge- und Verboten spricht. Zudem dürfte die westdeutsche 68er Generation vergleichsweise weniger enge Bindungen zu ihren Eltern und zu ihren Kindern haben. Dabei zeigen sich insbesondere Differenzen zwischen den 68er Söhnen gegenüber ihren Vätern und den 68er Vätern gegenüber ihren Töchtern und Söhnen. Als Erklärungen bieten sich hierfür u.a. Konflikte aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit der Eltern(generation), aufgrund der freieren Lebensführung der Kinder sowie aufgrund der besonderen Ansprüche der 68er Väter gegenüber ihren Kindern an.

Letztlich: Wenn vom 'Generationenkrieg' gesprochen wird, so sind damit jedoch zumeist nicht die familialen Generationenbeziehungen gemeint. Es geht dann vielmehr um Konflikte bei der Verteilung von sozialstaatlichen Belastungen und Begünstigungen aufgrund des Generationenvertrags. Wenn die Akzeptanz des wohlfahrtsstaatlichen Umverteilungsmusters nicht zuletzt auch von der Qualität der familialen intergenerationalen Verhältnisse abhängt, so geben die festgestellten engen Familienbeziehungen Anlaß zum Optimismus. Allerdings legen die Untersuchungen auch nahe, daß ökonomische Bedürftigkeiten eher zu weniger engen familialen Generationenbeziehungen führen.

Marc Szydlik

Marc Szydlik ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie


Ihre Meinung:

[vorherige [Inhalt] [nächste


Zurück zur -Startseite