Der Fall Franza und die Philosophie der Angst

Alle Bücher zuschlagen?


"Ich rede über die Angst. Schlagt alle Bücher zu, das Abrakadabra der Philosophen, dieser Angstsatyrn, die die Metaphysik bemühen und nicht wissen, was die Angst ist. Die Angst ist kein Geheimnis, kein Terminus, kein Existential, nichts Höheres, kein Begriff, Gott bewahre, nicht systematisierbar. Die Angst ist nicht disputierbar, sie ist der Überfall, sie ist [der] Terror, der massive Angriff auf das Leben. Das Fallbeil, zu dem man unterwegs ist, in einem Karren, zu seinem Henker, angeblickt von einer verständnislosen Umgebung, einem Publikum, und mein Publikum war mein Mörder."


Ingeborg Bachmann (1926-1973): Radikale Absage an eine Philosophie der Angst

Diese in ihrer Radikalität beeindruckende Absage an eine Philosophie der Angst aus Ingeborg Bachmanns unvollendetem Roman Der Fall Franza ist selber Ausdruck eines Gefühls, das wohl jedem, der schon einmal "der" Angst ausgesetzt gewesen ist und die "Bücher der Philosophen" studiert hat, vertraut sein dürfte: des Gefühls, daß unsere philosophischen Begriffe angesichts einer individuellen Angsterfahrung versagen, und dieses Gefühl wird gerade auch denen nicht fremd sein, die sich darum bemühen, das, was wir Angst nennen, philosophisch zu verstehen. Aber reicht dieses Gefühl nicht eigentlich weiter, betrifft es nicht die sprachliche Artikulation von Angst überhaupt und damit auch das, was Ingeborg Bachmann selber tut? Ist ihre Rede von der Angst und dem, was sie ist ("Terror", "Angriff"), nicht schon eine unzulässige Systematisierung? Sicher, wir können mißlungene von gelungeneren Reden über Angstgefühle unterscheiden, wir können eine restlose Verbegrifflichung kritisieren und mehr deskriptiv verfahrende Ansätze loben, aber wir bleiben bei all dem auf unsere Sprache angewiesen. Offensichtlich aber geht es dem Roman um eine Kritik an der Philosophie der Angst, und vielleicht können wir ihre Berechtigung prüfen, indem wir genauer fragen, im Namen welcher Angst was für eine Auffassung von Angst hier überhaupt kritisiert wird.

Der Fall Franza spricht nicht von Angst im allgemeinen, sondern von einer besonderen Angst: Der Roman skizziert die letzten Tage im Leben der Protagonistin Franza, die immer deutlicher erlebt, daß ihr Ehemann, ein angesehener Wiener Psychiater, sie Schritt für Schritt, unmerklich zunächst und dann immer offener, in einen psychiatrischen "Fall" verwandelt: all ihre Regungen und Äußerungen analysiert und auf diese Weise jede Unmittelbarkeit an ihr abtötet. In Franzas Worten: "Er hat mir meine Güter genommen. Mein Lachen, meine Zärtlichkeit, mein Freuenkönnen, mein Mitleiden, Helfenkönnen, meine Animalität, mein Strahlen, er hat jedes einzelne Aufkommen von all dem ausgetreten, bis es nicht mehr aufgekommen ist." Als Grund für dieses Verhalten glaubt Franza einen tödlichen Haß auszumachen, den sie genauer als Haß auf "das andere in mir", auf all das an ihr, was individuell und unvertretbar ist, deutet. Die Angst der Franza ist somit - und hier blicke ich in die "Bücher der Philosophen" - die Angst vor dem Haß des geliebten Menschen, und sie ist zugleich Angst um das Unvertretbare, Individuelle, dessen Zerstörung mit der der ganzen Person gleichbedeutend ist.


Sören Kierkegaard (1813-1855): Die Angst bleibt ein Geheimnis

Martin Heidegger (1889-1976): Die Angst vor einer unheimlichen, unvertrauten Welt analysiert

Inwiefern kann diese Angst so etwas wie eine Einspruchsinstanz gegen das "Abrakadabra der Philosophen" sein? Zunächst: Die Aufforderung, alle Bücher zuzuschlagen bedeutet genauer: Schlagt Der Begriff der Angst von Sören Kierkegaard und Sein und Zeit und Was ist Metaphysik? von Martin Heidegger zu. Es sind diese Schriften, auf die sich die Absage an die Philosophie bezieht ("Begriff", "Geheimnis", "Existenzial", "Metaphysik"). Sodann: Kierkegaard und Heidegger beschreiben und interpretieren vor allem eine Angst: die der Freiheit. Der wesentliche Gedanke Kierkegaards, den Heidegger in einem veränderten Kontext aufgreift und auch in der Sache modifiziert (auf all das kann ich hier nicht eingehen), lautet: Die Angst ist deshalb ein zentrales Phänomen, weil sie uns mit unserem grundlegenden, unhintergehbaren und unverfügbaren Freiheitsvermögen konfrontiert. Diese Freiheit ist zugleich unsere Bestimmung und unser größtes existentielles Problem, und genau deshalb erfahren wir sie ursprünglich als in sich ambivalente Angst.

Die Erfahrung einer unbestimmten Freiheit als reines Vermögen noch vor jeder Verwirklichung im konkreten Handeln stößt uns ab, weil sie uns von uns selbst loslöst und damit unser Leben insgesamt jäh in Frage stellt, und zugleich zieht uns diese Freiheit "sympathetisch" an, weil sie das spezifisch Menschliche des Menschseins ausmacht, das es zu verwirklichen gilt. Heidegger hat neben der Angst um die Freiheit noch die Angst vor einer unheimlichen, unvertrauten Welt analysiert, die er zunächst der Freiheitsangst unterordnet, um sie später als Offenbarung eines metaphysischen "Nichts" zu deuten, das allererst unsere Freiheit ermöglicht.

Können wir nun der generellen Absage Ingeborg Bachmanns an die Philosophie der Angst etwas abgewinnen, wenn wir sie genauer als Einspruch gegen die Angsttheorien Kierkegaards und Heideggers im Namen der Angst der Franza verstehen? Der Roman beharrt erstens darauf, daß die Angst der Franza nicht systematisierbar und nicht disputierbar sei. Wir haben gesehen, daß dieser Einspruch genauer der Auflösung des Individuellen in ein Netz wissenschaftlicher Begriffe opponiert. Er zielt jedoch im Falle Kierkegaards und Heideggers ins Leere, weil diese gar nicht beanspruchen, das Individuelle zu thematisieren; vielmehr geht es ihnen um solche Formen von Angst, die etwas Grundlegendes für menschliches Dasein überhaupt zum Ausdruck bringen. Der zweite Einwand lautet, daß die Angst der Franza "kein Geheimnis" sei. Er bezieht sich auf Kierkegaards These, daß die Freiheit in der Angst ursprünglich nur erahnt, nicht wirklich verstanden wird, und die Angst in diesem Sinne auch verborgen, "ein Geheimnis" bleibt. Von dieser These macht der Roman aber gerade selber Gebrauch, wenn er zeigt, daß Franza ihre Angst zu spät versteht, um noch gerettet werden zu können.

Der Einwand zielt denn auch auf etwas anderes, das zum Vorschein tritt, wenn wir uns dem dritten Grund dafür zuwenden, daß wir die genannten Bücher zuschlagen sollen: Die Angst der Franza sei im Gegensatz zu der der Philosophen "nichts Höheres", um sie zu artikulieren müsse man nicht die "Metaphysik bemühen". Mir scheint, daß hier ein wirkliches Manko der gemeinten Philosophien angesprochen wird. Indem sie die Freiheitsangst bzw. die Angst vor dem "Nichts" als die wesentliche Angst auszeichnen und in diesem Sinne "erhöhen", ihr anthropologische oder gar metaphysische Dignität zuschreiben, unterschlagen oder überfliegen sie die ebenfalls angstbestimmten "Niederungen" unseres realen Lebens, an denen Franza zugrundegeht: die zwischenmenschlichen Herrschaftsverhältnisse, die gerade in den intimsten Beziehungen, dann, wenn Liebe in Haß umschlägt, eine besondere Qualität erreichen. Die Angst der Franza, als Ausdruck dieses "Terrors" und zugleich als ohnmächtiger Widerstand gegen ihn verstanden, ist deshalb "kein Geheimnis", weil ihre Ursachen offen vor unseren Augen liegen, und sie ist auch in dem Sinne "nichts Höheres", als sie keine positivwertige Erfahrung ist wie vor allem bei Heidegger die Freiheitsangst: Sie ist Ausdruck des zerstörten, nicht eines potentiell gelingenden Lebens.

Fazit: Verstanden als Einspruch gegen eine Form von Philosophie, die nicht zuletzt beansprucht, Grundstrukturen menschlichen Daseins zu analysieren, aber bei aller Ausrichtung an negativen Phänomenen die reale Negativität innerweltlich-zwischenmenschlicher Verhältnisse aus den Augen verliert, bleibt die Kritik Ingeborg Bachmanns bedenkenswert.

Romano Pocai

Romano Pocai ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Philosophie.


Ihre Meinung:

[vorherige [Inhalt] [nächste


Zurück zur -Startseite