Bisexuelle in der Offensive*

Nicht jaja und neinnein, sondern JA


Nach der sexuellen Revolution in den sechziger und siebziger Jahren konnte und kann man viele Anzeichen eines roll back beobachten, sei es aus Angst vor Aids, sei es im Ausbeuten dieser Angst zugunsten einer sexualmoralischen Disziplinierung, aus welchen Motiven auch immer. Im Zusammenhang mit der Erforschung von Aids und möglicher Ansteckungswege ist die Öffentlichkeit auf eine Gruppe aufmerksam geworden, die bei der Erkundung des Spielfelds der diversen Sexualitäten in den letzten Jahrzehnten nahezu unentdeckt geblieben war: Menschen mit bisexuellem Lebensstil. Handelt es sich hier nicht um ein besonders lasterhaftes Genre, Leute einer geheimen Sozietät von Lauen, die der Herr ausspeien wird, weil sie nicht jaja und neinnein sagen, sondern immer nur ja, Zwischenträger der Seuche, abseits von den zweierlei rechten Wegen homo oder hetereo?

In der Gefahr, als hektisch gesuchte Sündenböcke aufgespürt und markiert zu werden, sind Betroffene und von diesen mobilisierte Sympathisanten einen mittlerweile bewährten und - wie es scheint Üauch erfolgversprechenden Weg gegangen. Sie haben die Flucht nach vorn angetreten, sich selbstbewußt geoutet und damit begonnen, den Teil ihres Privatlebens, der aus guten Gründen von öffentlichem Interesse sein kann, zu enttabuieren. (Vom 24. bis 26. Mai 1996 fand das 4. Internationale Symposion des Bisexuellen Netzwerks mit 200 bis 300 Teilnehmern aus aller Welt statt).

Daß unter den vielen Sexualitäten vor allem erst die meistverbreitete heterosexuelle in breitem Umfang zum Gegenstand der Wissenschaften geworden ist, bedarf keiner umständlichen Nachweise und Erklärungen. In der Literaturwissenschaft haben sich die gar nicht wenigen Arbeiten über die Literaturgeschichte der Liebe bis in die siebziger Jahre im wesentlichen auf diese statistisch überwiegende mannweibliche Variante beschränkt. Inzwischen gibt es nun auch eine relativ bescheidene Blüte von Studien über Homosexualität und Literatur. Aber daß deren favorisierte Autoren Thomas Mann, Andre Gide oder Hans Henny Jahnn und Hubert Fichte bisexuell gelebt zu haben scheinen - sollte das literarisch ganz bedeutungslos geblieben sein? - findet in diesem Zusammenhang höchstens als Schönheitsfehler Beachtung.

Auf diesem wie jedem anderen spezialwissenschaftlichen Feld macht sich der Mangel einer integrativen Sexualwissenschaft bemerkbar, die den diversen Sexualitäten ebenso Rechnung tragen würde wie den natur-, gesellschafts-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten, unter denen sie zum Thema werden können. Selbst in Berlin gibt es sie aber nach wie vor nicht: ein halbes Jahrhundert nach Magnus Hirschfeld. Jeder Fachwissenschaftler, der auf seinem Gebiet über Bisexualität forscht, ist ein Sonderling, egal ob in der Psychologie, Soziologie, Anthropologie oder - wie in meinem Fall - der Literaturwissenschaft. Also besteht hier für eine Freie Universität - d.h. eine Universität mit so wenig Vorurteilen wie möglich - Nachholbedarf.

Bisexualität, so möchte ich damit andeuten, ist wissenschaftlich ein weites Feld, das in Kooperation der verschiedenen akademischen Fächer allererst erschlossen werden muß. Das ist die eine Seite. Es gibt eine andere, über die kein Professor im Unklaren sein sollte: Ein Wissenschaftler wäre ein Schuft, wenn er nicht die Ordnung der Begriffe so weit wie irgend möglich ausdehnen wollen würde. Wozu sonst wäre er da? Er wäre aber auch ein Narr, wenn er hoffen würde, damit je an ein Ende zu kommen. Bisexualität ist ein Symptom der Unordentlichkeit des Lebens - kein Dogma, kein Sektenstichwort, sondern eine der vielen Erscheinungsformen von Zuneigung, die sich nicht planen und dauerhaft auch nicht reglementieren läßt: also ein Stoff für die Tragödien, vor allem aber auch die Komödien in Leben und Kunst. Nicht Wissenschaftler haben das Thema aktuell gehalten, sondern die Betroffenen: bisexuell lebende Menschen, die - im Fahrwasser der homosexuellen Avantgarden beiderlei Geschlechts - nicht einsehen können, weshalb ausgerechnet sie zwischen den orthodoxen Sexualitäten nach wie vor verächtlich bleiben sollten.

Was wäre die Wissenschaft, wenn kein Verlaß darauf wäre, daß sie immer wieder auch als Anwältin aller Mühseligen und Beladenen zur Stelle ist, wenn Aufklärung nottut. Wenn also die Freie Universität die Schirmherrschaft über dieses Symposium übernommen hat, dann in dem Bemühen, den Geltungsbereich der Wissenschaft als einer Patronin der Emanzipation auszudehnen.

Gert Mattenklott

*Dieser Beitrag basiert auf der Ansprache des Autors an die Teilnehmer/innen des 4. Internationalen Symposiums des Bisexuellen Netzwerks , das vom 24. bis 26. Mai unter der Schirmherrschaft des Berliner Senats und der FU stattfand.

Gert Mattenklott ist Professor am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft.


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