Doppelmoral beim Publikum? Geschmäht und doch gern gesehen - der Hollywoodfilm. Gedanken dazu macht sich der Amerikanistikprofessor Winfried Fluck

Typisch Hollywood?


In einer immer komplizierter werdenden Welt braucht der Mensch Kurzformeln. Eine solche Kurzformel stellt das Wort "Hollywood" dar. Mit dem Urteil "typischer Hollywoodfilm" scheint dann schon alles gesagt. Als griffige Kurzformel signalisiert der Be griff Standardisierung, Formelhaftigkeit und Konventionalität des Inhalts, die jedem künstlerischen Wagnis entgegenzustehen scheinen. Oft genug wird Hollywood dabei zum Symbol der amerikanischen Kultur überhaupt, nicht selten auch zum Symbo l dessen, was der Kapitalismus der Kunst antut.

Trotz unablässiger Kritik an der grundlegenden Konventionalität des Hollywoodprodukts ziehen es Zuschauer weltweit in der Regel dem jeweiligen nationalen Angebot vor. Seit längerem gilt das auch für Studenten und Intellektuelle. Auc h wenn es nicht immer eingestanden wird und gelegentlich zu einer Art Doppelmoral führt: Am Tage, so schrieb bereits Hans Magnus Enzensberger, ist man unbarmherziger Kritiker amerikanischer

Massenkultur, am Abend, nach des Tages kritischer Arbeit, hört man die populäre Musik von der Gruppe Time Warner und findet ohne Mühe Argumente, die Filme wie Thelma und Louise, Blue Velvet oder Pulp Fiction zeitgemäßer als de n letzten Film von Wim Wenders erscheinen lassen. Wim Wenders mag "Kunst" produzieren, aber Pulp Fiction reißt mit, verärgert, schüttelt durch und zieht unzählige ZuschauerInnen in seinen Bann.

Wie oft in der Rezeption der amerikanischen Hoch- und Populärkultur waren die Franzosen die ersten, die sich zur Realität und Legitimität solcher Gefühle und Faszinationen bekannten. Als junge französische Kritiker wie Godard, Truffaut und Chabrol nach dem 2. Weltkrieg die Möglichkeit hatten, in der "Cinˇmathˇque Francaise" Retrospektiven des amerikanischen Films insbesondere der 40er Jahre zu sehen, dem von ihnen sogenannten "film noir", waren sie fasziniert von der unlit erarischen Direktheit des filmischen Ausdrucks des amerikanischen Genrefilms, die sie der primär "literarischen" Ausdrucksweise des französischen Films vorzogen. In der Neuen Welle des französischen Films wurde das amerikanische Genrekino z um Vorbild, der Erfolg der Neuen Welle gab wiederum der krisengeschüttelten amerikanischen Filmindustrie neue Anstöße, die zu m "Neuen Hollywood"-Film solcher Regisseure wie Altman, Coppola, Scorsese und Spielberg führten (deren Werk allerdings immer ein Genrekino blieb).


Hollywoodkino: Quentin Tarantinos Pulp Fiction - versus ...

In den Filmkritiken ihrer Zeitschrift Cahiers du Cinˇma hatten die Franzosen eine elementare Einsicht gewonnen, die für die von Adornos und Horkheimers Kritik der Massenkultur geprägten deutschen Intellektuellen nicht einsichtig war: Standard isierung ist zunächst eine Produktionsform, die die Voraussetzung für die Kontinuität einer Industrie und Zuschauerschaft darstellt (etwas, woran der deutsche Film nach Jahren künstlerischer Selbstverwirklichung, die die Industrie fast ruinierte, gegenwärtig hart arbeitet). In der Herstellung einzelner Filme bleibt dennoch ein breites Spektrum von Realisierungen möglich. Man entdeckte eine durchaus individuelle Handschrift in den Filmen von Alfred Hitchcock, Fritz Lang, Howar d Hawks, John Ford, Douglas Sirk und unzähligen anderen, zu denen mittlerweile auch William Wyler und Elia Kazan zählen, deren Filme auf der diesjährigen Berlinale in Retrospektiven gezeigt werden. Mehr noch: In vielen ist Verschlüssel ung durch die Genrekonvention geradezu die Voraussetzung dafür, daß bestimmte Wünsche und kulturelle Konflikte überhaupt Ausdruck finden können. So wird beispielsweise der amerikanische Gangsterfilm längst als Inszenierung d es Konflikts zwischen individuellem Erfolg "um jeden Preis" und der Notwendigkeit sozialer Regeln interpretiert.

Ist ein solches Genremuster einmal etabliert, dann ermöglicht die immer neue Variation des Genres die fortlaufende Anpassung des kulturellen Deutungsmusters an die sich verändernden Zeit-läufe. Die Geschichte eines typischen Hollywoodgen res bietet daher weitaus mehr als die Wiederkehr des Immergleichen, sondern umgekehrt gerade eine faszinierende Geschichte des sich verändernden Umgangs mit den zentralen Wertkonflikten einer Gesellschaft.


... europäisches Kunstkino - In weiter Ferne, so nah von Wim Wenders.

Es ist üblich geworden, den weltweiten Siegeszug des amerikanischen Films auf den Würgegriff der amerikanischen Filmindustrie zurückzuführen. Hollywood droht in der Tat nationale Filmkulturen und Filmindustrien zu erdrücken. Ab er es vermag dies in einer zunehmend diversifizierten Medienlandschaft vor allem aufgrund der Wirksamkeit seiner Produkte. Diese Wirksamkeit nicht nur des amerikanischen Films, sondern der amerikanischen Populärkultur insgesamt, hat zwei wesentliche Ursachen: Eine ist die konstante Verschmelzung verschiedener ethnischer Einflüsse, die nicht nur eine Unterhaltungsindustrie von besonderer Vitalität hervorbringt, sondern im Zwang zur "Nationalisierung" dieser multikulturellen Vielfalt jene Bed ingungen im eigenen Land bereits vorfand, die heute den globalen Markt kennzeichnen, und daher von Anfang an darum bemüht war, eine möglichst "universale" Filmsprache zu entwickeln. Die "Literarisierung" und Intellektualisierung, die für da s europäische "art cinema" typisch wurde, konnte sich Hollywood daher nie leisten. Seine Wirkungsbasis sind das wiederkehrende, gleichsam mystische, Erzählmuster und der direkte Appell des Bildes. Hollywoodfilme wirken durch die intensive Pr&aum l;senz ihrer Stars, Tänze, Taten und Tränen. Das begründet ihre Stärke und - sofern dabei auf eine Überwältigung des Zuschauers gezielt wird - ihre gesellschaftlich problematische Seite. Es macht keinen Sinn, diesen Beitrag z ur Entwicklung des Films gegen das europäische Kunstkino auszuspielen. Beide machen verschiedenen Gebrauch vom Medium Film, beide optimieren ein Potential und zahlen einen Preis dafür. Aber es wäre eben so naiv, die Formen in der bequemen S chublade Hollywood abzulegen, die die amerikanische Filmindustrie und Kultur zu dieser Suche beigesteuert haben.


Winfried Fluck

Winfried Fluck ist Professor am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien


Ihre Meinung:

[vorherige [Inhalt] [nächste


Zurück zur -Startseite