Der Mediävist Gerhard Spellerberg ist tot

Die Germanistik aus der Lethargie gerissen


Zwei Tage vor seinem 59. Geburtstag ist Professor Gerhard Spellerberg von seinem schweren Krebsleiden erlöst worden.

Spellerberg, der seit 1977 an der FU Neuere Deutsche Literatur lehrte, hatte in Münster und Berlin Germanistik, Geschichte, Philosophie und Kunstgeschichte studiert und 1968 mit einer Monographie zum Thema Verhängnis und Geschichte in Lohensteins Werk bei Wilhelm Emrich promoviert. Nach kurzer Assistentenzeit folgte er 1969 dem Mediävisten Joachim Bumke nach Köln und war dort bis zu seiner Berufung nach Berlin als akademischer Oberrat in der mediävistischen Germanistik tätig.

Spellerberg gehörte zu den Hochschullehrern, die die ältere deutsche Literatur- und Sprachgeschichte bis ins 18. Jahrhundert hinein vertreten können. Sein didaktisches Geschick und die Sorgfalt in der Lehre wußten die Studenten ö auch in rauheren Zeiten ö hoch zu schätzen. Die siebente Auflage des zusammen mit Udo Gerdes verfaßten "Grammatischen Grundkurses zur Einführung und Textlektüre", der zuerst 1972 erschien, bezeugt seinen Erfolg auf schöne Weise. In Seminaren und Übungen behandelte er vorzugsweise Autoren und Gattungen der Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, und zwar in einer Dichte und Spezialisierung, wie sie anderwärts kaum üblich ist.

Spellerbergs Forschungsinteresse galt der schlesischen Barockliteratur und da besonders den drei Breslauer Dramatikern Gryphius, Lohenstein und Hallmann. In die Gedankenwelt Lohensteins hatte er sich in seiner gewichtigen Dissertation tief eingegraben. Mit viel gelehrtem Einsatz arbeitete er Lohensteins Vorstellung von der Geschichte als Explikation des Verhängnisses heraus. Seine detaillierten Problemanalysen sind modellhaft. Sie zielten darauf ab, geschichtlich angemessene Definitionen als Basis für das Verstehen der Texte zu gewinnen. Die 1970 erschienene Untersuchung gehört zu den Aufbruch-Arbeiten, die sich erfolgreich um ein neues Verständnis der Literatur des 17. Jahrhunderts bemühten und die Eigenständigkeit dieser Textwelt herauszuarbeiten suchten.

Die Faszination, die von Lohensteins Werk ausgeht, hat ihn nicht wieder losgelassen: mindestens die Hälfte seiner wissenschaftlichen Publikationen ist diesem Autor gewidmet. Daß die dringend benötigte wissenschaftliche Lohenstein-Ausgabe, die Krönung und Abschluß seiner Forschungen zu diesem Autor sein sollte, Gerhard Spellerberg, obwohl sie weit gediehen war, banal aus der Hand geschlagen wurde, ist ein großer Verlust für die Literaturhistorie.

Einen erheblichen Teil seiner Kraft und Zeit widmete Spellerberg darüber hinaus dem notwendigen administrativen Alltagsgeschäft einer Universität. Er besaß das unbedingte Vertrauen vieler Kollegen und beherrschte vorzüglich die Finessen, sowohl konstruktiv wie integrativ zu verfahren. In seiner Dekanatszeit von 1992 bis 1994 gelang ihm das Kunststück, durch kraftvollen und unermüdlichen Einsatz "seinen" Fachbereich Germanistik aus der Lethargie herauszureißen und zurechtzurücken.

Hans-Gert Roloff


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